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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Valeries Fingersilhouettenüber die Schrift, dann wurden sie von einer zeppelinförmigen Füllfeder abgelöst.
    Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Ein Bettler sitzt den ganzen Tag auf der Straße. Die Geldstücke tröpfeln langsam in seinen Hut. Irgendwann hat er davon so viele, dass er sich irgendetwas kaufen kann. Etwas zu essen oder zu trinken. Aber der Bettler ist schlau und macht eine Investition: Er kauft ein Kinderspielzeug, ein altmodisches, billiges natürlich, etwas wie ein Holzpferdchen oder einen trübsinnigen Kreisel. Daneben stellt er ein Bild eines kleinen Kindes. Die Leute gehen vorbei, und in ihren Köpfen kommt es zu dem beabsichtigten Kurzschluss. Sie sehen das Bild des Kindes und das melancholische Spielzeug, und die dafür zuständigen Drüsen in ihrem Nervensystem produzieren Mitleid. Sie geben dem Bettler mehr Geld. Er nimmt es und kauft wieder Spielzeug. Mehr Spielzeug neben dem Kinderbild ergibt mehr Mitleid, eine einfache Gleichung, und tatsächlich ist er schon sehr bald in der Lage, sich noch mehr Spielzeug zu kaufen. Schließlich benötigt er einen Karton als Unterlage für das viele Spielzeug. Ein Traktor ist darunter, eine abgewetzte Vorform einer Barbiepuppe, fünf Kreisel, ein Jojo, ein Seifenblasenspender, eine Scherzartikelfliege in einem Eiswürfel und so weiter und so fort. Die Leute knien jetzt bereits vor seiner Sammlung nieder, und er, selbstsicher zurückgelehnt an der Mauer, die ihm nun gar nicht mehr schmutzig vorkommt, stellt sich mit Genuss vor, wie das Mitleid in ihren Köpfen fast schon tropische Temperaturen annehmen muss. Aber die Leute tun etwas vollkommen Unverständliches: Sie fragen ihn, wie viel?
Wie viel was?
Na, für dieses Pferdchen mit dem Schwanz, den man wie eine Wasserpumpe bewegen kann. Als er ihnen zu verstehen gibt, dass er nicht verkaufen will, gehen sie davon und schimpfen ihn einen Verrückten
.
    Niemand im Auditorium wusste, was diese Geschichte bedeuten sollte. Valerie trank einen Schluck aus einer mit Wasser gefüllten Colaflasche.
    Sie trug eine Lederjacke, die so selbstbewusst wirkte, dass es fast schon peinlich war. Ich versuchte die ganze Zeit, einen Blick von ihr zu erhaschen, mit dem ich für ein paar gesegnete Sekunden spielen hätte können, aber Valerie sah absichtlich immer woanders hin. Auch das war irgendwie erregend. Sie ignorierte mich nicht, sie hielt mich geheim.
    Wer besuchte den Vortrag? Ältere, übergewichtige Frauen, hauptsächlich. Ein paar Exzentriker, von denen einer in einem Papageno-Kostüm steckte, über dem er allerdings Sakko und Mantel trug. Dazu ein paar alternative Jugendliche in rosafarbenen oder weißen Kleidern, die seit einem verhängnisvollen Diskobesuch mit einem leisen Sirren in ihren Gehörgängen zusammenlebten und gelegentlich sehnsüchtig an Selbstmord dachten.
Lydia. Abschiedsbriefe schreiben. Du Idiot
.
    Die Jugendlichen besetzten die ersten drei Reihen. Darunter auch eine Frau mit starrem, fast eisigem Gesicht, die neben einem Mann saß, der Sportler oder Sporttrainer sein musste (wer würde sonst mit einer Trillerpfeife um den Hals aus dem Haus gehen?). War es derselbe, der mich vor einer Woche in Valeries Wartezimmer angesprochen hatte? Ein Verrückter, der behauptet hatte, mich von irgendwoher zu kennen. Sicher, deshalb geht er ja auch zur Therapie. Ein unsympathischer Kerl, dem man nicht allein in der Umkleidekabine begegnen möchte. Seine kleine Frau war allerdings eine willkommene Abwechslung; endlich jemand, der nicht so fett war, dass er mit sich selbst synchronschwimmen hätte können.
    Nach einer Weile begann Valerie von den Wundern der Partnerschaft zu sprechen. Da sie dabei Wörter wie
Sexleben, Befriedigung
und
Abenteuer
verwendete, konnte ich mich sogar auf den Inhalt ihres Vortrags konzentrieren. Anfangs hielt ich mich am Rand der Sitzbank fest, dann streifte mich einmal kurz ihr Blick (in dem Augenblick, da ihre überbehauchte Stimme den Wortteil
lastig
aussprach, ohne dass ich wusste, zu welchem Wort er gehörte), und ich steckte meine Hand unauffällig in die Hosentasche und schloss die Augen.
    … und ist es nicht gleichzeitig sehr komisch, dass mit dem Erwachen, mit dem Reifen der Genitalien und den ersten mutigen Expeditionen in ihre unerforschten Gebiete auch das in unser Leben tritt, was man im Allgemeinen den Ernst des Lebens nennt? Der Tod, der die Geschichte beendet, und das leblose Weltall, das übrig bleibt, diese ungeheure Platzverschwendung, alles das, dieses ganze

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