Die Frequenzen
ganze Scheiße eingelassen? Spiele einen Verrückten. Dabei bin ich ganz normal.
Er bemerkte, dass ihm jemand nachgegangen war. Gabi stand da, lächelnd.
– Was du da gestern in der Gruppe gesagt hast, sagte sie. Hast du das ernst gemeint?
Walter hatte nicht die geringste Ahnung, was sie meinte. Aber ihr Blick war so zuversichtlich, dass er sie nicht enttäuschen wollte, also sagte er:
– Ja, sicher.
Sie faltete die Hände.
Dann machte sie einen mutigen Schritt vorwärts, als trete sie durch einen Perlenvorhang, reckte ihren schreckhaften Kopf und drückte ihre Lippen auf Walters Mund.
Walter sah, wie sie ihre Augen schloss.
Gabi atmete tief durch die Nase, atmete Moleküle von Walter ein, köstliche, frische Moleküle, der Moment dehnte und vergoldete sich, sie spürte, wie etwas in ihr wuchs und übermütig wurde vor lauter Erfüllung. Aber dann, als hätte man an der Schnur einer Lampe gezogen, um Licht zu machen, und hielte sie nun abgerissen in der Hand – löste Walter seine Lippen von ihr. Und seine Hände lagen plötzlich auf ihren Schultern und drückten sie unsanft fort.
Und da sprach Walter mit der Stimme Gottes, die sich in diesem Augenblick wie ein großer, gefräßiger Bolzen Wahrheit durch Gabis Hirn bohrte:
– WAS SOLL DENN DAS? HAST DU DEN VERSTAND VERLOREN?
Über Selbstbestimmung
In einer Erzählung von Samuel Johnson mit dem Titel
Rasselas
sitzt ein Astronom Tag und Nacht vor dem Teleskop und verfolgt die Reiserouten der Sterne. Stundenlang blickt er auf die kleinen, weißen Punkte und die großen, schwarzen Zwischenräume, welche das meterlange Fernrohr gehorsam und geduldig an seine Netzhaut weiterleitet. Er hat den seltsam unwiderlegbaren Verdacht, das Universum würde einfach aufhören zu existieren, wenn er es nur für einen Augenblick sich selbst überlassen würde.
Natürlich hat der Mann vollkommen Recht mit seiner Vermutung: Gerade einmal eine Stunde nachdem ich ihre Wohnung verlassen hatte, rief ich Valerie wieder an. Sie ging nicht ran. Sofort wurde ich ungeduldig und fuhr mit dem großen Zeh die Spuren der weißen Klebestreifen auf meinem Schlafzimmerboden nach. (Die Nebelschwaden unseres kleinen Drogenexperiments hatten sich zwar schon verzogen und ich konnte wieder einigermaßen klar denken, trotzdem zählte ich sicherheitshalber meine Zehen nach. Allerdings hörte ich schon nach dem ersten Fuß auf und war’s zufrieden. Genug Kindereien für heute. Aber dann las ich einen Zeitungsartikel über eine bevorstehende Schulreform, und fast jeder Satz darin war zum Schreien komisch.)
Ich wartete die ganze Nacht, ob sie vielleicht zurückriefe, aber ich würde mich bis zum nächsten Abend gedulden müssen.
Auf dem Weg zu ihrem Vortrag stellte ich mir vor, wie ich Valerie vor einem Angreifer rettete. Ich kam gerade an, ein paar Leute standen abseits, Valerie unterhielt sich miteinem großen Mann. Plötzlich packte er sie am Handgelenk und zerrte sie mit sich in eine dunkle Hauseinfahrt (von denen es immer welche zu geben scheint, wenn man sie braucht). Ich baute mich vor ihm auf, er zückte ein Messer. Ich verpasste ihm drei
Roundhouse Kicks
, er kippte nach hinten, Unter- und Oberkiefer bildeten ein zerschlagenes Parallelogramm. Das Messer glitt ihm aus der Hand, ich hob es auf und rammte es ihm durch seine Handfläche tief ins Mauerwerk. Wir ließen ihn einarmig zappeln und ich geleitete Valerie an meinem Arm sicher zu ihrem Wagen.
Mit den ersten Sätzen ihres Vortrags hatte sie sofort den ganzen Saal für sich gewonnen.
Meine Damen und Herren, liebe Freunde. Die Meschen sterben, wenn sie sich dazu entscheiden. Das ist eine Daumenregel. Oft genug tritt sie nicht ein. Denn man muss bekanntlich alt genug sein, um sich zu entscheiden, dass man das Licht jetzt besser abschaltet, rechtzeitig bevor der oder die Angehörige von der Toilette zurückkommt
.
Das Thema meines Vortrags sind Entscheidungen
.
Die erste Frage, die uns beschäftigen wird, lautet: Ist ein gradueller Übergang zwischen eigen- und fremdbestimmtem Leben überhaupt möglich? Bisweilen scheint es uns so, als würde schon die allerkleinste Unfreiheit ausreichen, um ein Leben vollkommen fremdbestimmt zu machen. Der menschliche Verstand, von Natur aus obsessiv und pedantisch, beginnt sofort, um diese klitzekleine Unfreiheit seine Jahresringe zu spinnen, bis diese alles überlagern, was von Belang ist
.
Das ölige Bild einer Overheadfolie erschien auf der Wand. Riesenhaft vergrößert und schwarz glitten
Weitere Kostenlose Bücher