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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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angenehmen Schwindelgefühl, das erzeugt werden sollte. Ein Schwindelgefühl, das den Körper (sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, räusperte sich und wiederholte dieses Wort),
den Körper
wieder in seine Balance brachte. Es sei dasselbe Schwindelgefühl, das einen befällt, wenn man erkennt, jeder Mensch ist nur eine gespannte Saite über einem Abgrund.
    Walter hatte große Schwierigkeiten, ihr zu folgen. Ihm erschien diese Erklärung paradox und er fragte nach. Während er seine Zweifel formulierte, schaute Valerie zur Decke, wo es tausend interessante Dinge zu sehen gab, und antwortete schließlich, dass es doch gut sei, wenn er eigene Aspekte einbringe. Zum zwanzigsten Mal rückte sie ihre Füllfeder zurecht.
    Walter gab auf. Er beschloss, die Zeilen auswendig zu lernen. Schwindelgefühle, die Balance erzeugten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprach. Trotzdem bedankte er sich bei Valerie und erhob sich, um zu gehen.
    – Das ist so, murmelte Valerie, die ein wenig aus ihrem Morgentaumel erwacht schien.
    Walter wartete gespannt, aber sie hatte vergessen, was sie sagen wollte. Sie ließ die Füllfeder durch ihre Finger gleiten, malte sich aus Versehen den Handrücken an und bemerkte es nicht, dann stand auch sie auf und gab Walter die Hand.
    – Oh, was ich noch vergessen habe –
    – Ja?, fragte Walter hoffnungsvoll.
    – Heute Nachmittag ist eine Singgruppe, das ist … ach, das würde wahrscheinlich zu weit führen, wenn ich Ihnen das erklären wollte … ein Überbleibsel von früheren Gesprächsgruppen. Bei der Leechkirche, um vierzehn Uhr. Wissen Sie, wie Sie da hinkommen?
    – Ja.
    – Warten Sie, ich erklär’s Ihnen. Setzen Sie sich, ich bin gleich wieder da.
    In welche Komödie war er hier geraten? Es war ganz still im Zimmer. Nur der Papagei machte leise Stapfgeräusche in seinem Käfig.
    Valerie kam mit einem Glas Wasser zurück.
    – Gut, also, sagte Walter. Vierzehn Uhr bei der Leechkirche. Also dann.
    – Ciao, sagte Valerie.
    Dumme Nuss, dachte Walter, als er den Raum verließ. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie auf ihrem Sessel kindisch hin und her wippte. Sie saß so schief, dass sie fast unter den Tisch rutschte.
    Aus seiner Zeit als poetisch inspirierter Spaziergängermit-Notizbuch (oh, er hatte alle Gedichte inzwischen verbrannt und niemand würde sie je zu Gesicht bekommen!) kannte Walter die Kirchen seiner Stadt ziemlich gut.
    Aus irgendeinem Grund sprach er gern über Kirchen. Dabei war er gar nicht gläubig; sein Glaube beschränktesich auf die staunende Ungeduld, die er angesichts windbewegter Schaukeln auf einem völlig verrosteten Kinderspielplatz oder angesichts der unmenschlichen Laute und Rituale der Fasane im Garten seiner Eltern empfand. Fragte ihn jemand nach seinem Glauben, konnte Walter lange über die philosophischen Aspekte von Religion reden und wurde dabei immer zutraulicher, bis er dem Gesprächspartner ohne Vorwarnung das Du-Wort anbot. Ja, das konnte vorkommen. Manchmal ging er noch am selben Tag mit seinem Gesprächspartner ins Bett und wusste hinterher wenigstens, warum er so lange über Religion gesprochen hatte, obwohl ihn das Thema nicht besonders interessierte. Einmal war er mit einem Mann im Bett gelandet, der von sich behauptete,
im Prinzip nicht homosexuell
zu sein, auch nicht
neugierig
oder
offen
. Der Mann hatte Frau und Kind. Er trug eine Brille und einen dichten Vollbart, was Walter sonst eher nicht gefiel, und kam Walter aus irgendeinem Grund bekannt vor.
    Er hatte ihn weniger aus Sympathie oder Geilheit verführt als aus dem Bedürfnis, dieses unangenehme Gefühl zu betäuben.
    Der Fremde war überraschend zärtlich. Er massierte ihn am ganzen Körper, langsam und geduldig, bis Walter vor Entspannung gar nicht mehr sprechen konnte. Dann kniete er sich nackt auf Walters Rücken und sagte:
    – Deine Haut, sie ist so hell. Hat dir das schon mal jemand gesagt?
    – Ehrlich?, murmelte Walter benommen.
    Am nächsten Morgen erklärte der Fremde, er sei eigentlich nicht schwul, er habe nur etwas beweisen wollen. Walter, der einen nicht ausfüllbaren Abgrund hinter dieser Bemerkung vermutete, hakte nicht nach, obwohl er sichfragte, was dieses Etwas gewesen sein mochte und ob es nach dieser Nacht, in der er ihm mehrmals vor lauter unerklärlicher Erregung ins Kinn gebissen und ihn am Ende sogar gebeten hatte, in seinen Rachen zu ejakulieren, was der Fremde nur mit einigen Schwierigkeiten zuwege gebracht hatte – ob jenes Etwas dadurch nun

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