Die Frequenzen
die krakelige Handschrift meines Sitznachbarn entziffert hatte. Es ging noch immer irgendwie um freie Entscheidungen. Das Wort
Ernährung
war zweimal unterstrichen. Ein Pfeil führte von diesem Wort zu einer Blase. Und in der Blase stand:
Selbst
… Was?
Befr
… Nein.
Selbstreferenzielle Abschottung
.
Wir erfuhren, dass Valerie früher einmal stark übergewichtig gewesen war und in sehr kurzer Zeit sehr viel Gewicht verloren hatte. Die Leute schrieben beeindruckt mit. Der Mann neben mir schüttelte seinen Kugelschreiber.
Valerie brachte das halbe Auditorium zum Lachen mit einer Anekdote über eine Freundin, die immer wieder Ausflüchte fand, um nicht abnehmen zu müssen:
Manchmal können Frauen gar nicht anders, sagt diese Freundin, manchmal müssen sie dick und schwabbelig und riesig werden. Denn sie sind mit einem unterentwickelten, kindlich-brutalen Mann verheiratet, und nichts, so sagt meine Freundin, geht über den Horror eines Mannes vor einer nackten fetten Frau!
(Erstes Gelächter)
Wer, sagt sie, würde mit ihr eine Rauferei anfangen?
(Zweites Gelächter, etwas schwächer)
Sie sehen, meine Damen und Herren, das sind nur Scheinargumente, selbstreferenzielle Abschottungen
…
Der Vortrag vertiefte sich nun ein wenig, wurde anspruchsvoller und komplizierter. Der Mann neben mir hörte aufmitzuschreiben. Stattdessen lehnte er sich zurück und beschäftigte seine Krawatte.
Valerie erzählte eine Geschichte.
Kore war die Tochter der Demeter, der Göttin der Jahreszeiten und der Fruchtbarkeit. Demeter liebte ihre Tochter über alles, aber eines Tages wurde Kore von Hades, dem Gott der Unterwelt, geraubt. Zeus half Hades dabei, indem er eine Hyazinthe an der Stelle wachsen ließ, wo sich Kore gerade befand. Halten wir die Szene für einen Augenblick an: am Boden eine Hyazinthe, Kore daneben, ein unschuldiges Mädchen, steht einfach so herum, und Hades, der gerechteste aller griechischen Götter, nähert sich von unten. Er ist es gewohnt, Menschen zu sich zu nehmen, er tut es jeden Tag, unabhängig von Geschlecht, sozialem Stand, Alter oder Beruf
.
Das Krawattenspiel neben mir hörte auf. Ein paar Wörter wurden rasch hingekritzelt, ohne Zweifel völlig sinnlos.
Aber sehen wir uns die Geschichte weiter an. Ich erzähle sie deshalb so ausführlich, weil wir darin ein Ideal erblicken werden, eine Doppelfigur, die sehr nahe an das heranreicht, was ich zuvor versucht habe zu erläutern. Kore wird also von Hades in die Unterwelt entführt und zu seiner Braut gemacht. Als seine Braut nimmt sie einen anderen Namen an: Persephone. Sie ist nun die Herrscherin über die Unterwelt, die dunkle Prinzessin, die über eine Schar von Toten bestimmt. Auf der Erde war sie nur die Tochter ihrer Mutter. Merken wir uns das. Die Mutter, Demeter, ist sehr traurig, und ihre Trauer bewirkt, dass die Welt in ewigen Winter versinkt. Blumen und Bäume sterben, dann die Tiere, zuletzt die Menschen. Die Götter versuchen, Demeter aufzumuntern, aber sie ist untröstlich. Sie weint und wirft sichauf den Boden, strampelt mit den Beinen und verlangt nach ihrer Tochter. Zeus hat ein Einsehen und erlässt, dass Kore ein paar Monate im Jahr bei ihrer Mutter verbringen muss. In den Wintermonaten darf sie die finstere Königin der Unterwelt sein, die Frau von Hades
.
Valerie trank kurz aus der Colaflasche.
Was sehen wir? Zuerst ist da ein uraltes Muster: Mädchen zieht von Zuhause aus, Mutter weint um ihren Fortgang, dämonisiert den Ehemann, sieht ihn als Räuber und Vergewaltiger. Das ist jedem bekannt
. (Überraschendes Gelächter im Publikum.)
Die wirklich interessante Gestalt in der ganzen Geschichte ist natürlich Kore Schrägstrich Persephone. Sie ist die Bewohnerin zweier Welten. Sie ist nicht so dumm zu glauben, dass eine Frau auch nur für einen flüchtigen Augenblick die Macht ihres Mannes besitzt. Gleichzeitig nimmt sie jedes Jahr einen langen Urlaub von ihren unterirdischen Machtgefilden. Wenn sie noch selbst entscheiden könnte, wann sie diesen Urlaub antritt, wäre sie ein vollkommenes Beispiel für selbst bestimmtes Leben. Wir können sie im Grunde nur beneiden, die junge Kore, wenn sie mit langsamen Schritten die Treppe zum U-Bahn-Schacht hinuntergeht, ihre dunklen Sonnenbrillen aufsetzt und beobachtet, wie ihr eigener Schatten langsam von der Vielzahl der anderen Schatten verschluckt wird
.
Der Kerl neben mir machte mittlerweile kleine Schlaufen in seine Krawatte. Ich machte meinen Mund zu. War er offen gewesen? Warum? Wie
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