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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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hatte, gingen alle schlafen, zerschlagen vor Müdigkeit. Bis zum Tagesanbruch ließ Lazare das Licht brennen, und Pauline öffnete mehr als zehnmal leise ihre Tür, um zu horchen; aber es stieg aus dem jetzt leeren ersten Stockwerk nur Totenstille herauf.
    Vom nächsten Tage an begannen für den jungen Mann die langen herzzerreißenden Stunden, die einer großen Trauer folgen. Er erwachte wie aus einer Ohnmacht nach einem Sturz, von dem seine Glieder steif geblieben waren; und er hatte jetzt wieder einen klaren Kopf, die sehr deutliche Erinnerung, frei von dem Alptraum, durch den er mit der verworrenen Vision des Fiebers gegangen war. Jede Einzelheit erstand wieder, er durchlebte noch einmal seinen Schmerz. Die Tatsache des Todes, mit der er noch nicht in Berührung gekommen war, war in der armen, in wenigen Tagen brutal dahingerafften Mutter für ihn gegenwärtig. Das Entsetzliche, nicht mehr zu sein, wurde greifbar: Man war zu viert, und es wurde ein Loch gegraben, man blieb zu dritt zurück, vor Elend zitternd und sich verzweifelt aneinanderdrängend, um ein wenig von der verlorenen Wärme wiederzufinden. Das also war es, sterben? Es war dieses Nimmermehr, diese zitternden Arme, die sich um einen Schatten schlangen, der nichts von sich zurückließ als entsetzte Trauer.
    Seine arme Mutter, er verlor sie stündlich aufs neue, sooft die Tote in ihm aufstand. Zunächst hatte er nicht so sehr gelitten, weder als seine Cousine heruntergekommen und ihm in die Arme gestürzt war noch während der langen Grausamkeit der Beerdigung. Er empfand den schrecklichen Verlust erst seit seiner Rückkehr in das leere Haus; und sein Kummer wurde noch gesteigert durch den Selbstvorwurf, daß er nicht noch mehr geweint hatte unter dem Eindruck des Todeskampfes, als etwas von der Entschwundenen noch da war. Die Furcht, seine Mutter nicht geliebt zu haben, peinigte ihn, würgte ihn zuweilen mit einem Weinkrampf. Er beschwor sie unaufhörlich herauf, er wurde von ihrem Bild verfolgt. Wenn er die Treppe hinaufstieg, war er darauf gefaßt, sie mit dem raschen kleinen Schritt, mit dem sie über den Flur ging, aus ihrem Zimmer kommen zu sehen. Oft wandte er sich um, da er sie zu hören meinte, so erfüllt von ihr, daß ihm seine Einbildung schließlich vorgaukelte, er höre hinter der Tür ein Kleid schleifen. Sie war nicht ärgerlich, sie sah ihn nicht einmal an; es war nur eine vertraute Erscheinung, ein Schatten des Lebens von ehedem. Des Nachts wagte er nicht, seine Lampe zu löschen, flüchtige Geräusche näherten sich dem Bett, ein Atem streifte seine Stirn in der Dunkelheit. Und statt sich zu schließen, wurde die Wunde immer größer, bei der geringsten Erinnerung war es ein nervöser Schock, eine wirkliche, schnell auftauchende Erscheinung, die sogleich wieder zerrann und die Angst vor dem Nimmermehr in ihm zurückließ.
    Alles im Hause erinnerte ihn an seine Mutter. Ihr Zimmer war unberührt geblieben, man hatte nicht ein Möbelstück von der Stelle gerückt, ein Fingerhut lag neben einer Stickarbeit am Rande eines Tischchens. Der Zeiger der Pendeluhr auf dem Kamin stand auf sieben Uhr siebenunddreißig Minuten: ihre Sterbestunde. Lazare vermied es, das Zimmer zu betreten. Dann wieder, wenn er rasch die Treppe hinaufging, trieb ein plötzlicher Entschluß ihn bisweilen dazu. Und während sein Herz in mächtigen Schlägen klopfte, schien es ihm, als hätten die wohlvertrauten alten Möbel, der Sekretär, das Tischchen, das Bett vor allem, eine Erhabenheit angenommen, die sie veränderte. Durch die stets geschlossenen Fensterläden glitt ein bleicher Schimmer, dessen Unbestimmtheit seine Verwirrung steigerte, während er das Kopfkissen küßte, auf dem das Haupt der Toten erkaltet war. Eines Morgens, als er eintrat, blieb er betroffen stehen: Die weitgeöffneten Fensterläden ließen das helle Tageslicht in Strömen hereinfluten, ein heiteres Sonnentuch war bis über das Kopfkissen schräg über das Bett gebreitet, und auf den Möbeln standen Blumen in allen Töpfen, die man hatte auftreiben können. Da erinnerte er sich, daß es ein Jahrestag war, der Geburtstag jener, die nicht mehr war, ein Tag, der alle Jahre gefeiert wurde und den seine Cousine im Gedächtnis behalten hatte. Es waren nur die armseligen Blumen des Herbstes, Astern, Margeriten und die schon vom Frost gestreiften letzten Rosen; doch sie rochen stark nach Leben, sie umrahmten mit ihren fröhlichen Farben das tote Zifferblatt, auf dem die Zeit stehengeblieben

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