Die Freude am Leben
rief Pauline. »Dreimal gehst du jetzt schon zu diesem Schrank zurück, um den Schlüssel zu berühren ... Nun, er wird schon nicht wegfliegen.«
Abends konnte er nicht aus dem Eßzimmer herausfinden; er stellte die Stühle in einer vorgeschriebenen Ordnung auf, ließ die Tür eine bestimmte Anzahl von Malen zuschlagen, ging noch einmal hinein und legte die Hände, die rechte nach der linken, auf das Meisterwerk des Großvaters. Pauline wartete auf ihn am Fuße der Treppe und lachte schließlich.
»Was für einen komischen Kauz wirst du mit achtzig Jahren abgeben! ... Ich frage dich nur, ob es vernünftig ist, die Gegenstände so zu plagen?«
Mit der Zeit hörte sie auf zu scherzen, beunruhigt über seinen mißlichen Zustand. Eines Morgens überraschte sie ihn, wie er siebenmal das Holz des Bettes küßte, in dem seine Mutter gestorben war; und sie erschrak, sie erriet die Qualen, mit denen er sich das Leben vergiftete. Wenn er erbleichte, so er in einer Zeitung ein Datum aus dem zwanzigsten Jahrhundert fand, sah sie ihn mit einem Ausdruck des Mitleids an, der ihn den Kopf abwenden ließ. Er fühlte sich erkannt, er lief in sein Zimmer und verbarg sich dort mit der verwirrten Scham eines Weibes, das man in seiner Nacktheit überrascht. Wie viele Male hatte er sich einen Feigling genannt! Wie viele Male hatte er geschworen, gegen sein Übel anzukämpfen. Er zwang sich, Vernunft anzunehmen, es gelang ihm, dem Tod ins Angesicht zu schauen; um ihm zu trotzen, streckte er sich dann, anstatt in einem Sessel zu wachen, sogleich auf seinem Bett aus. Der Tod mochte kommen, er wartete auf ihn wie auf eine Erlösung. Doch alsbald trug das Klopfen seines Herzens seine Schwüre davon, und der kalte Hauch ließ sein Fleisch erstarren, und er streckte mit dem Schrei »Mein Gott! Mein Gott!« die Hände aus. Das waren schreckliche Rückfälle, die ihn mit Scham und Verzweiflung erfüllten. Dann drückte ihn das zärtliche Mitleid seiner Cousine vollends nieder. Die Tage wurden so lastend schwer, daß er sie ohne die Hoffnung begann, sie jemals zu Ende zu bringen. Bei diesem Zerbröckeln seines Wesens hatte er zunächst seine Fröhlichkeit eingebüßt, und jetzt verließ ihn auch seine Kraft.
Pauline indessen wollte siegen im Stolz ihrer Selbstaufopferung. Sie kannte das Übel, sie versuchte, Lazare von ihrem Mute abzugeben, ihn dazu zu bringen, das Leben zu lieben. Aber ihre Güte erlitt dabei ständig Schiffbruch. Zuerst hatte sie gedacht, ihn geradeheraus anzugreifen, sie begann wieder mit ihren alten Scherzen über »dieses häßliche Tier von Pessimismus«. Was denn? Jetzt war sie es, die dem großen heiligen Schopenhauer die Messe las, während er, wie alle diese Spaßvögel von Pessimisten, zwar dafür war, die Welt in die Luft zu sprengen, es aber entschieden ablehnte, bei dem Tanz mitzumachen! Diese Spöttereien schüttelten ihn mit einem gezwungenen Lachen, und er schien so sehr darunter zu leiden, daß sie nicht wieder davon anfing. Dann versuchte sie es mit Tröstungen, mit denen man die Wehwehchen der Kinder beschwichtigt, bemühte sie sich, ihm eine freundliche, von heiterem Frieden erfüllte Umgebung zu schaffen. Stets sah er sie glücklich und frisch, mit einem Duft wie das blühende Leben. Das Haus war voller Sonnenschein. Er hätte das Leben nur zu leben brauchen, aber er konnte es nicht, dieses Glück verschlimmerte sein Entsetzen vor dem Jenseits nur noch mehr. Schließlich gebrauchte sie List, sie träumte davon, ihn zu irgendeiner großen Arbeit zu bewegen, die ihn betäuben würde. Krank von Müßiggang, völlig lustlos, fand er sogar das Lesen zu beschwerlich und verbrachte seine Tage damit, sich zu zerfleischen.
Einen Augenblick lang hoffte Pauline. Sie waren zu einem kurzen Spaziergang an den Strand gegangen, als Lazare angesichts der Trümmer der Wellenbrecher und des Pfahlwerks, von denen ein paar Balken übriggeblieben waren, ihr ein neues Schutzsystem zu erklären begann, von zuverlässiger Widerstandskraft, wie er versicherte. Das Übel rührte von der Schwäche der Rammpfähle her; man mußte ihre Stärke verdoppeln und dem Mittelbalken eine größere Schräge geben. Da er dabei seine dröhnende Stimme, die leuchtenden Augen von früher hatte, drängte sie ihn, sich wieder ans Werk zu machen. Das Dorf litt, jede Flut spülte ein Stück davon fort; wenn er beim Präfekten vorstellig wurde, würde er gewiß die Unterstützung erhalten; außerdem bot sie ihm von neuem Vorschüsse an, sie wäre stolz,
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