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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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anderen Organe betäubte ihn vor allem sein Herz, das in jedem seiner Glieder, bis in die Fingerspitzen hinein, mit Glockenschwüngen dröhnte. Legte er den Ellbogen auf einen Tisch, so schlug sein Herz in seinem Ellbogen; lehnte er seinen Nacken an die Sessellehne, so schlug sein Herz im Nacken; wenn er sich setzte, wenn er sich legte, so schlug sein Herz in den Schenkeln, in den Seiten, im Bauch: und immer, immer dröhnte diese Glocke, bemaß ihm das Leben mit dem Gerassel einer ablaufenden Uhr. So glaubte er unter dem Zwang der Beobachtung, der er seinen Körper unaufhörlich unterzog, in jedem Augenblick, daß alles zusammenkrachen würde, daß die Organe sich abnutzten und in Stücke auseinanderflogen, daß das Herz, ungeheuer groß geworden, mit gewaltigen Hammerschlägen selbst die Maschine zerschmettern würde. Das war kein Leben mehr, sich in dieser Weise leben zu hören, zitternd vor der Zerbrechlichkeit des Mechanismus, in Erwartung des Sandkorns, das ihn zerstören sollte.
    So waren Lazares Ängste immer größer geworden. Seit Jahren streifte der Gedanke an den Tod beim Schlafengehen sein Gesicht und ließ ihm das Blut erstarren. Jetzt wagte er nicht mehr einzuschlafen, gequält von der Furcht, nicht wieder zu erwachen. Er haßte den Schlaf, er hatte ein Grauen davor, sein Ich ohnmächtig werden zu fühlen, wenn es vom Wachsein in den Taumel des Nichts sank. Sein plötzliches Erwachen schüttelte ihn dann noch mehr, zog ihn aus dem Dunkel, als habe eine Riesenfaust ihn an den Haaren gepackt und ins Leben zurückgeschleudert, stammelnd vor Schrecken vor dem Unbekannten, aus dem er hervorging. Mein Gott, mein Gott! Man mußte sterben! Und noch nie hatten sich seine Hände in so verzweifelter Aufwallung gefaltet. Jeden Abend wurde seine Qual so groß, daß er sich lieber nicht ins Bett legte. Er hatte bemerkt, daß, wenn er sich am Tage auf einem Diwan ausstreckte, er ohne Erschütterung, in kindlichem Frieden einschlief. Das war dann ein stärkendes Ausruhen, ein bleierner Schlaf, der jedoch seine Nächte vollends verdarb, Allmählich gelangte er zu regelrechter Schlaflosigkeit, er bevorzugte seinen langen Nachmittagsschlaf und schlummerte nur noch gegen Morgen ein, wenn die Dämmerung die Angst vor der Finsternis verjagte.
    Dennoch ließen diese Zustände gelegentlich nach. Lazare wurde zuweilen zwei und drei Abende nicht vom Tode besucht. Eines Tages fand Pauline bei ihm einen Kalender voller roter Striche. Verwundert befragte sie ihn.
    »Nanu! Was notierst du dir denn da? Sind das aber viele angestrichene Daten!«
    Er stammelte:
    »Ich notiere gar nichts ... Ich weiß nicht ...«
    Fröhlich fuhr sie fort:
    »Ich dachte, nur die Mädchen vertrauen den Kalendern Dinge an, die man niemand sagt ... Wenn du an all diesen Tagen an uns denkst, bist du wirklich sehr lieb ... Ach so, du hast Geheimnisse!«
    Doch da er immer verwirrter wurde, war sie so barmherzig, zu schweigen. Über die erbleichte Stirn des jungen Mannes sah sie einen ihr wohlbekannten Schatten gleiten, das verborgene Leiden, von dem sie ihn nicht zu heilen vermochte.
    Seit einiger Zeit setzte er sie auch durch eine neue Manie in Erstaunen. In der Gewißheit seines nahen Endes verließ er keinen Raum mehr, schloß er kein Buch, bediente er sich keines Gegenstandes, ohne zu glauben, daß dies seine letzte Handlung sei, daß er weder den Gegenstand noch das Buch, noch den Raum je wiedersehen würde; er hatte die Gewohnheit eines ständigen Abschiednehmens von den Dingen angenommen, ein krankhaftes Bedürfnis, diese Dinge noch einmal in die Hand zu nehmen, sie noch einmal zu sehen. Das war begleitet von Vorstellungen der Symmetrie: drei Schritte nach links und drei Schritte nach rechts; die Möbel zu beiden Seiten eines Kamins oder einer Tür jedes gleich viele Male berührt; ganz abgesehen davon, daß hier im Grunde die abergläubische Vorstellung mit hineinspielte, daß eine gewisse Anzahl von Berührungen, fünf oder sieben zum Beispiel, auf besondere Weise verteilt, die Endgültigkeit des Abschieds verhindere. Trotz seines lebhaften Verstandes, seiner Verneigung des Übernatürlichen befolgte er mit der Fügsamkeit eines Tieres diese stumpfsinnige Religion, die er wie eine schändliche Krankheit verbarg. So rächte sich die nervliche Zerrüttung an dem Pessimisten und Positivisten, der einzig an die Tatsache, an die Erfahrung zu glauben vorgab. Er fiel den anderen damit schließlich auf die Nerven.
    »Was läufst du bloß immer hin und her?«

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