Die Freude am Leben
Ungeheuerlichkeiten erhoben sich in der Dunkelheit. Was tun? Sich die Augen ausstechen und doch noch sehen, vielleicht immerdar sehen?
Die Minuten verstrichen, ihr war nur noch die Ewigkeit ihrer Qual bewußt. Ein Erschrecken ließ sie aufspringen. Jemand war da, denn sie hatte lachen hören. Aber sie fand nur ihre fast niedergebrannte Kerze, die die Manschette des Leuchters zum Platzen gebracht hatte. Wenn sie dennoch jemand gesehen hatte? Dieses eingebildete Lachen lief noch über ihre Haut wie eine rohe Liebkosung. War sie es wirklich, die so nackt dastand? Scham ergriff sie, verstört hatte sie die Arme über der Brust gekreuzt, um sich selber nicht mehr zu sehen. Endlich zog sie sich rasch ein Nachthemd über, kehrte zum Bett zurück und vergrub sich unter den Decken, die sie bis zum Kinn hinaufzog. Ihr zitternder Körper machte sich ganz klein. Als die Kerze erloschen war, rührte sie sich nicht mehr, von der Scham über diesen Anfall vernichtet.
Am Vormittag packte Pauline ihren Koffer, ohne die Kraft zu finden, Chanteau ihre Abreise anzukündigen. Am Abend indessen mußte sie ihm alles sagen, denn Doktor Cazenove sollte sie am nächsten Tage abholen und sie selber zu seiner Verwandten bringen. Als der Onkel begriffen hatte, hob er erschüttert in einer irren Gebärde seine armen verkrüppelten Hände, wie um sie zurückzuhalten; und er stammelte, er flehte sie an. Sie werde das doch niemals tun, sie werde ihn doch nicht verlassen, denn das sei Mord, er würde ganz gewiß daran sterben. Dann, als er sah, wie sie sanft darauf bestand, und er ihre Gründe erriet, entschloß er sich, das Unrecht einzugestehen, das er begangen, indem er am Abend zuvor Rebhuhn gegessen hatte. Leichte Stiche brannten ihn schon an den Gelenken. Es war immer dieselbe Geschichte, er unterlag in dem Kampf: Sollte er essen? Sollte er leiden? Und er aß, wissend, daß er leiden würde, befriedigt und entsetzt zugleich. Aber sie würde doch nicht den Mut haben, ihn mitten in einem Anfall zu verlassen.
In der Tat kam gegen zehn Uhr morgens Véronique herauf, Pauline mitzuteilen, daß sie Herrn Chanteau in seinem Zimmer schreien höre. Sie hatte abscheuliche Laune, sie schimpfte durch das ganze Haus, daß sie, wenn Mademoiselle Pauline fortgehe, sich auch aus dem Staube machen werde, denn sie habe genug davon, einen so unvernünftigen Alten zu pflegen. Pauline mußte sich wieder einmal am Lager ihres Onkels niederlassen. Als der Doktor erschien, um sie mitzunehmen, wies sie auf den Kranken, welcher triumphierte, indem er noch lauter schrie und ihr zurief, sie solle nur abreisen, wenn sie das Herz dazu habe. Alles wurde aufgeschoben.
Jeden Tag zitterte das junge Mädchen davor, Lazare und Louise zurückkommen zu sehen, auf die ihr neues Zimmer, das für sie hergerichtete ehemalige Gastzimmer, seit dem Tage nach der Hochzeit wartete. Sie hielten sich länger in Caen auf; Lazare schrieb, daß er sich Aufzeichnungen über die Finanzwelt machen wolle, bevor er sich nach Bonneville zurückziehen werde, um einen großen Roman zu beginnen, in dem er die Wahrheit über die Geschäftemacher sagen wolle. Eines Morgens dann erschien er ohne seine Frau und verkündete ruhig, daß er sich mit ihr in Paris niederlassen werde: Sein Schwiegervater habe ihn überzeugt, er nehme die Stellung in der Versicherungsgesellschaft an, unter dem Vorwand, daß er so seine Notizen aus dem Leben greifen könne; später werde er dann sehen und wieder zur Literatur zurückkehren.
Als Lazare zwei Kisten mit Gegenständen gefüllt hatte, die er mitnahm, und Malivoires Berline gekommen war, ihn mit seinem Gepäck abzuholen, ging Pauline betäubt ins Haus zurück; sie fand ihre einstige Willenskraft in sich nicht wieder. Chanteau, der noch sehr leidend war, fragte sie:
»Du bleibst doch, hoffe ich? Warte so lange, bis du mich begraben hast!«
Sie wollte nicht sogleich antworten. Oben stand ihr Koffer noch immer gepackt da. Sie sah ihn stundenlang an. Da nun die anderen nach Paris gingen, durfte sie ihren Onkel nicht im Stich lassen. Gewiß, sie mißtraute den Entschlüssen ihres Cousins; aber wenn das Ehepaar zurückkam, stand es ihr immer noch frei, fortzugehen. Und nachdem Cazenove ihr wütend gesagt hatte, sie verlöre eine prächtige Stellung, um ihr Leben bei Leuten zu vergeuden, die seit ihrer Jugend auf ihre Kosten lebten, entschloß sie sich auf einmal.
»Geh nur«, sagte Chanteau jetzt wiederholt zu ihr. »Wenn du Taler verdienen und so glücklich sein sollst,
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