Die Freude am Leben
kann ich dich nicht zwingen, mit einem Krüppel wie mir deine Tage zuzubringen ... Geh nur.«
Eines Morgens erwiderte sie:
»Nein, Onkel, ich bleibe.«
Der Doktor, der gerade zugegen war, hob die Arme zum Himmel und ging kopfschüttelnd fort.
»Sie ist unmöglich, diese Kleine! Und welch ein Wespennest da drinnen! Da kommt sie nie heraus.«
Kapitel IX
Und die Tage flossen wieder dahin in dem Haus von Bonneville. Nach einem sehr kalten Winter hatte es einen regnerischen Frühling gegeben, das von den Regengüssen gepeitschte Meer glich einem Schlammsee; dann hatte sich der späte Sommer bis in die Mitte des Herbstes hingezogen mit drückend heißer Sonne, die die blaue Unermeßlichkeit unter lastender Hitze einschläferte; dann war wieder der Winter gekommen und ein Frühling und noch ein Sommer, die Minute für Minute in dem rhythmischen Ablauf der Stunden gleichförmig dahingingen.
Pauline fand, als habe ihr Herz sich nach diesem Uhrwerk geregelt, ihre große Ruhe wieder. Ihre Leiden wurden eingeschläfert, gewiegt von den regelmäßigen Tagen, dahingetragen in immer denselben ständig wiederkehrenden Beschäftigungen. Sie ging des Morgens hinunter, küßte ihren Onkel, führte mit dem Hausmädchen die gleiche Unterhaltung wie am Tage zuvor, setzte sich zweimal zu Tisch, nähte am Nachmittag, ging am Abend zeitig zu Bett; und am nächsten Morgen begann der Tag von neuem, ohne daß jemals ein unerwartetes Ereignis eintrat und seine Eintönigkeit unterbrach. Chanteau, mehr und mehr durch die Gicht gefesselt, mit geschwollenen Beinen, unförmigen Händen, blieb stumm, wenn er nicht schrie, versunken in die Glückseligkeit, nicht zu leiden. Véronique, die ihre Sprache verloren zu haben schien, verfiel in düstere Übellaunigkeit. Einzig die Abendmahlzeiten an den Samstagen unterbrachen diese Stille. Cazenove und Abbé Horteur hielten das Abendessen pünktlich ein, man hörte bis um zehn Uhr Stimmen, dann ging der Priester in seinen Holzschuhen über das Pflaster des Hofes davon, während der Wagen des Doktors im schwerfälligen Trab des alten Pferdes fortfuhr. Selbst Paulines Fröhlichkeit war stiller geworden, jene tapfere Fröhlichkeit, die sie inmitten ihrer Qualen bewahrt hatte. Ihr klangvolles Lachen erfüllte nicht mehr das Treppenhaus und die Räume; doch sie blieb die Tatkraft und die Güte des Hauses und brachte jeden Morgen neuen Mut zum Leben mit. Nachdem ein Jahr vergangen, war ihr Herz zur Ruhe gekommen, sie konnte glauben, daß die Stunden nunmehr auf solche Weise einförmig und sanft dahinfließen würden, ohne daß irgend etwas den schlummernden Schmerz wieder in ihr wachriefe.
In der ersten Zeit nach Lazares Abreise hatte jeder seiner Briefe Pauline verwirrt. Sie lebte nur durch diese Briefe, erwartete sie mit Ungeduld, las sie wieder und wieder und fand darin viel mehr ausgedrückt, als die geschriebenen Worte besagten. Drei Monate lang kamen sie regelmäßig alle vierzehn Tage, waren sehr lang, voller Einzelheiten und von Hoffnung überströmend. Lazare ließ sich wieder einmal von seiner Begeisterung fortreißen, stürzte sich in die Geschäfte und träumte sogleich von einem riesenhaften Vermögen. Seinen Briefen nach brachte die Versicherungsgesellschaft ungeheure Gewinne ein; und er würde sich nicht darauf beschränken; er häufte Unternehmen auf Unternehmen, rühmte die Finanzleute und Industriellen als reizende Gesellschafter und klagte sich an, daß er sie als Dichter so töricht verurteilt hatte. Jeder literarische Gedanke schien vergessen. Dann wurde er nicht müde, über die Freuden seiner Ehe zu berichten, erzählte von den Kindereien eines Verliebten mit seiner Frau, von geraubten Küssen, von Streichen, die er ihr gespielt, und breitete sein Glück aus, um jener zu danken, die er seine »geliebte Schwester« nannte. Diese Einzelheiten, diese vertraulichen Stellen gingen Pauline unter die Haut. Sie war betäubt durch den Liebesduft, der von dem Papier aufstieg, einen Duft von Heliotrop, Louises Lieblingsparfüm. Dieses Papier hatte neben ihrer Wäsche geschlummert: Pauline schloß die Augen, sah die Zeilen aufflammen, sah, wie sie die Sätze weiterführten, sah sich in die enge Vertraulichkeit ihres Honigmondes versetzt. Aber nach und nach wurden die Briefe spärlicher und kürzer, ihr Cousin sprach nicht mehr von seinen Geschäften und begnügte sich damit, ihr die Grüße seiner Frau zu schicken. Im übrigen gab er keinerlei Erklärung, er hörte einfach auf, alles zu
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