Die Freude am Leben
nein, nichts, das bekommt mir am besten.«
Er bat sie jedoch, sein linkes Bein anders hinzulegen, denn er konnte es allein nicht bewegen.
»Das Luder brennt heute. Leg es weiter ab, schieb es doch! Gut, danke ... Was für ein schöner Tag! Ach, mein Gott! Ach, mein Gott!«
Die Augen auf den weiten Horizont gerichtet, fuhr er fort zu stöhnen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Sein Jammerschrei war jetzt gleichsam sein Atem. In eine dicke blaue Moltondecke gehüllt, deren Weite seine wurzelähnlichen Glieder ertränkte, ließ er seine mißgestalten Hände, jämmerlich anzusehen im hellen Sonnenlicht, auf den Knien ruhen. Und das Meer nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch, diese blaue Unendlichkeit, auf der weiße Segel vorüberzogen, diese grenzenlose Straße, die sich auf tat vor ihm, der nicht mehr fähig war, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Pauline, die sich ob der nackten Beine des kleinen Paul Sorge machte, war von neuem niedergekniet, um einen Zipfel der Decke zurückzuschlagen. Drei Monate lang hatte sie jede Woche am folgenden Montag abreisen sollen. Doch die schwachen Hände des Kindes hielten sie mit unbezwinglicher Gewalt zurück. Im ersten Monat hatte man jeden Morgen gefürchtet, es nicht bis zum Abend leben zu sehen. Sie allein vollbrachte das Wunder, den Kleinen in jeder Sekunde zu retten, denn die Mutter lag noch zu Bett, und die Amme, die sie hatten nehmen müssen, gab nur ihre Milch mit dem fügsamen Stumpfsinn einer jungen Kuh. Pauline bemühte sich in ständiger Fürsorge um ihn, überwachte unaufhörlich seine Temperatur, hegte und pflegte mit der wahren Hartnäckigkeit einer Bruthenne Stunde um Stunde sein Leben, um den Schwangerschaftsmonat zu ersetzen, der ihm fehlte. Nach diesem ersten Monat war er glücklicherweise so kräftig wie ein zum normalen Zeitpunkt geborenes Kind und hatte sich nach und nach entwickelt. Aber er blieb immer noch recht schwächlich, sie verließ ihn nicht eine Minute, vor allem nach seiner Entwöhnung, unter der er gelitten hatte.
»So wird er nicht frieren ...«, sagte sie. »Sieh doch nur, Onkel, wie niedlich er ist in diesem Rot! Das macht ihn ganz rosig.«
Chanteau wandte mühsam den Kopf, den einzigen Teil seines Körpers, den er bewegen konnte. Er murmelte:
»Wenn du ihn küßt, wirst du ihn wecken. Laß ihn doch, unsern Engel ... Hast du den Dampfer da unten gesehen? Er kommt von Le Havre. Und wie der flitzt, was?«
Pauline mußte den Dampfer betrachten, um Chanteau eine Freude zu machen. Es war ein schwarzer Punkt auf der Unermeßlichkeit der See. Ein dünner Rauchstreifen zeichnete sich am Horizont ab. Versunken in den Anblick dieses so ruhigen Meeres unter dem weiten, klaren Himmel, blieb sie einen Augenblick reglos stehen, glücklich über diesen schönen Tag.
»Bei alledem brennt mir mein Ragout an«, sagte sie und lenkte ihre Schritte zur Küche.
Doch als sie gerade wieder ins Haus treten wollte, rief eine Stimme aus dem ersten Stockwerk:
»Pauline!«
Es war Louise. Sie lehnte sich aus dem Fenster des ehemaligen Schlafzimmers von Frau Chanteau, das jetzt von dem Ehepaar bewohnt wurde. Halb gekämmt, mit einer Nachtjacke bekleidet, fuhr sie mit scharfer Stimme fort:
»Wenn Lazare da ist, sag ihm, er soll heraufkommen.«
»Nein, er ist noch nicht zurück.«
Da geriet sie vollends außer sich.
»Ich wußte ja, daß ich ihn erst heute abend sehen würde, wenn er überhaupt geruht zu kommen! Er war schon letzte Nacht nicht da, trotz seines ausdrücklichen Versprechens ... Ach, er macht mir wirklich Spaß! Wenn er nach Caen fährt, kann man ihn nicht wieder von dort losreißen.«
»Er hat so wenig Zerstreuung!« erwiderte Pauline sanft. »Und außerdem wird er wegen der Düngerangelegenheit Zeit verloren haben ... Er kommt sicher mit dem Wagen des Doktors nach Hause.«
Seit Lazare und Louise in Bonneville wohnten, gab es ständig Reibereien zwischen ihnen. Nicht, daß sie offen stritten, aber sie hatten fortwährend schlechte Laune und führten das jämmerlich verdorbene Leben zweier Menschen, die sich nicht verstehen. Sie schleppte sich nach langen, quälenden Folgeerscheinungen der Entbindung durch ein leeres Dasein dahin, hatte ein Grauen vor den Besorgungen des Haushalts, schlug die Tage mit Lesen tot oder indem sie bis zum Abendessen Toilette machte. Er wiederum war von grenzenloser Langerweile befallen, tat keinen einzigen Blick in ein Buch, verbrachte die Stunden stumpfsinnig am Meer und versuchte nur hin und wieder eine Flucht
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