Die Freude am Leben
zu schlafen ... Ich war wütend, daß keiner herunterkam, mir Nachricht zu geben, und ich empfand indessen keinerlei Unruhe, denn ich träumte, daß alles sehr gut ginge.«
Seine Freude war doppelt so groß, als er Abbé Horteur erscheinen sah, der nach seiner Messe herbeieilte. Er neckte ihn tüchtig.
»Sie sind mir ja einer! So lassen Sie mich also im Stich? Sie haben wohl Angst vor Kindern?«
Um sich aus der Verlegenheit zu ziehen, erzählte der Priester, er habe eines Abends eine Frau auf der Landstraße entbunden und das Kind getauft. Dann nahm er ein Gläschen Curaçao an.
Heller Sonnenschein vergoldete den Hof, als Doktor Cazenove sich endlich verabschiedete. Als Lazare und Pauline ihn hinausbegleiteten, fragte er Pauline ganz leise:
»Sie reisen heute nicht ab?«
Pauline schwieg einen Augenblick. Ihre großen nachdenklichen Augen blickten auf, schienen weit in die Ferne, in die Zukunft zu schauen.
»Nein«, erwiderte sie. »Ich muß abwarten.«
Kapitel XI
Nach einem abscheulichen Monat Mai waren die ersten Junitage sehr heiß. Der Westwind wehte seit drei Wochen, Stürme hatten die Küsten verheert, Felswände ausgehöhlt, Boote verschlungen, Menschen getötet; und der weite blaue Himmel, das atlasglänzende Meer, die warmen, klaren Tage, die jetzt leuchtete, waren von unendlicher Lieblichkeit.
An diesem herrlichen Nachmittag hatte Pauline sich entschlossen, Chanteaus Sessel auf die Terrasse zu rollen und neben ihm den schon achtzehn Monate alten kleinen Paul auf einer roten Wolldecke schlafen zu legen. Sie war seine Patin und verwöhnte das Kind ebensosehr wie den alten Mann.
»Wird dich die Sonne auch nicht stören, Onkel?«
»Aber nein doch! Ich habe sie so lange nicht gesehen. Und Paul läßt du da einschlafen?«
»Ja, ja, die Luft wird ihm guttun.«
Sie hatte sich am Rande der Decke niedergekniet und betrachtete ihn in seinem weißen Kleidchen, aus dem seine nackten Arme und Beine herausschauten. Mit geschlossenen Augen wandte er sein rosiges, unbewegtes Gesichtchen dem Himmel zu.
»Er ist wirklich gleich eingeschlafen«, murmelte sie. »Er war vom Herumwälzen müde ... Paß auf, daß ihn die Tiere in Ruhe lassen.«
Und mit dem Finger drohte sie Minouche, die auf dem Fensterbrett des Eßzimmers saß, wo sie sich putzte. Abseits im Sand lag Loulou der Länge nach ausgestreckt und öffnete von Zeit zu Zeit ein mißtrauisches Auge, unaufhörlich bereit zu knurren und zu beißen.
Als Pauline sich erhob, stieß Chanteau einen dumpfen Klagelaut aus.
»Fängt es wieder an?«
»Ja, es fängt wieder an, das heißt, es hört überhaupt nicht mehr auf ... Ich habe gestöhnt, nicht wahr? Wie komisch! Ich merke das manchmal gar nicht.«
Er war zu einem Gegenstand fürchterlichen Mitleids geworden. Nach und nach hatte die chronische Gicht in allen seinen Gelenken Harnsalze abgelagert, ungeheure Gichtknoten hatten sich gebildet und drangen als weißliche Wucherungen durch die Haut. Die Füße, die man nicht sah, da sie in Hausschuhen steckten, zogen sich zusammen wie die Krallen eines kranken Vogels. Doch die Hände stellten das Grauen ihrer Unförmigkeit zur Schau, Schwellungen von glänzenden roten Knoten an jedem Fingerglied, die Finger verkrümmt und gespreizt durch die Geschwülste, beide Hände gleichsam von unten nach oben gekehrt, die linke vor allem, die eine Steinbildung von der Größe eines kleinen, Eies abstoßend machte. Am linken Ellbogen hatte eine größere Ablagerung ein Geschwür hervorgerufen. Und jetzt war die Versteifung vollständig, weder Füße noch Hände vermochten ihren Dienst zu tun, die wenigen Gelenke, die noch halbwegs beweglich waren, krachten, als schüttelte man einen Sack Billardkugeln. Mit der Zeit schien sich sein Körper in der Haltung versteinert zu haben, die er eingenommen, um das Leiden besser zu ertragen, vornübergebeugt, mit einer starken Abweichung nach rechts; so hatte er die Form des Sessels angenommen und blieb, wenn man ihn zu Bett legte, ebenso gebeugt und verkrümmt. Der Schmerz verließ ihn nicht mehr, die Entzündung war bei der geringsten Wetterveränderung, nach einem Schluck Wein oder einem Bissen Fleisch, die er außerhalb der strengen Diät zu sich nahm, wieder da.
»Möchtest du eine Tasse Milch?« fragte Pauline. »Das würde dich vielleicht erfrischen.«
»Ach ja, Milch!« erwiderte er zwischen zwei Klagelauten. »Noch so eine hübsche Erfindung, ihre Milchkur! Ich glaube, damit haben sie mich vollends zugrunde gerichtet ... Nein,
Weitere Kostenlose Bücher