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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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damals angesichts der Sterne; sie sah ihn jetzt bei gewissen Worten erbleichen und schweigen, als hätte er ein Übel zu verbergen, das er nicht eingestehen konnte; und es war für sie eine große Überraschung, dieses Entsetzen vor dem Nichts bei diesem eingefleischten Pessimisten, der davon sprach, die Gestirne gleich Kerzen ausblasen zu wollen über dem allgemeinen Gemetzel der Wesen. Das Übel stammte von weit her, sie ahnte nicht einmal, wie bedenklich es war. Je älter Lazare wurde, desto drohender sah er den Tod sich aufrichten. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr hatte ihn des Abends, wenn er sich schlafen legte, kaum ein kalter Hauch gestreift. Heute konnte er nicht den Kopf auf das Kissen legen, ohne daß der Gedanke an das Nimmermehr sein Gesicht eisig anwehte. Schlaflosigkeit befiel ihn, er kannte keine Ergebenheit angesichts der unausweichlichen Notwendigkeit, die sich in schauerlichen Bildern entrollte. Wenn ihn die Müdigkeit überwältigt hatte, fuhr er dann zuweilen aus dem Schlaf hoch, setzte sich auf mit vor Grauen geweiteten Augen und gefalteten Händen und stammelte in der Finsternis: »Mein Gott! Mein Gott!« Seine Brust drohte zu zerspringen, er glaubte zu sterben; und er mußte wieder Licht machen, er wartete, bis er vollkommen wach war, um wieder ein wenig Ruhe zu finden. Ein Gefühl der Scham ob dieses Entsetzens blieb in ihm zurück: War das blöde, dieses Anrufen eines Gottes, den er leugnete, dieses Erbe der menschlichen Schwäche, die bei der Zerschmetterung der Welt um Hilfe schreit! Aber der Anfall kehrte dennoch jeden Abend wieder, gleich einer schlimmen Leidenschaft, die ihn trotz seiner Vernunft auspumpte. Auch am Tage brachte ihn alles wieder darauf zurück, eine zufällig hingeworfene Redensart, ein rascher Gedanke, der geboren war aus dem, was er flüchtig geschaut, was er gelesen hatte. Als Pauline eines Abends ihrem Onkel aus der Zeitung vorlas, war Lazare hinausgegangen, verstört über den Einfall eines Erzählers, der den Himmel des zwanzigsten Jahrhunderts voller Luftschiffe zeigte, welche Reisende von einem Kontinent zum anderen spazierenfuhren: Er würde nicht mehr dasein: diese Luftschiffe, die er nicht zu Gesicht bekommen würde, verschwanden in der Tiefe jenes Nichts der künftigen Jahrhunderte, deren Verlauf außerhalb seines Seins ihn mit Angst erfüllte. Seine Philosophen mochten ihm noch so oft wiederholen, daß nicht ein Fünkchen Leben verlorenging, sein Ich weigerte sich ungestüm, ein Ende zu nehmen. Schon war in diesem Kampf seine Fröhlichkeit dahingeschwunden. Wenn Pauline, die nicht immer die Sprunghaftigkeit seines Charakters verstand, ihn in den Stunden ansah, da er seine Wunde mit ängstlicher Scham verbarg, empfand sie Mitleid, hatte sie das Bedürfnis, sehr gut zu sein und ihn glücklich zu machen.
    Die Tage schleppten sich im großen Zimmer des zweiten Stockwerks dahin, inmitten der Algen, der Gläser, der Instrumente, die Lazare in seiner Kraftlosigkeit nicht einmal mehr weggeschafft hatte; und die Algen zerfielen, die Gläser entfärbten sich, während die Instrumente unter dem Staub aus den Fugen gerieten. Sie waren beide verloren, ihnen war heiß in dieser Unordnung. Oft prasselten vom Morgen bis zum Abend die Regengüsse des Dezember auf die Schieferplatten des Daches, der Westwind schnaufte wie eine Orgel durch die Ritzen der Holzverkleidung. Ganze Wochen vergingen ohne einen Sonnenstrahl, sie sahen nur das graue Meer, eine graue Unermeßlichkeit, in der die Erde zu zerfließen schien. Um die langen leeren Stunden auszufüllen, vergnügte sich Pauline damit, eine Sammlung von Rotalgen zu ordnen, die sie im Frühling zusammengetragen hatte. Zunächst hatte sich Lazare, der seinem Verdruß nachhing, damit zufriedengegeben, ihr zuzusehen, wie sie die fein verzweigten Pflanzen einklebte, deren zartes Rot und Blau Aquarelltöne bewahrten; dann hatte er, da er krank war von Nichtstun und seine Theorie von der Untätigkeit vergaß, unter den verbeulten Apparaten und den schmutzigen Fläschchen, die in Mengen darauf herumstanden, das Klavier ausgegraben. Acht Tage später hatte ihn die Leidenschaft für die Musik wieder ganz und gar gepackt. War er als Wissenschaftler und Industrieller gescheitert, so ließ sich das aus der ersten seelischen Verwundung erklären, aus dem Riß, den sein Künstlertum erlitten. Eines Morgens, als er seinen »Todesmarsch« spielte, hatte ihn der Gedanke an die große »Schmerzenssinfonie«, die er früher einmal schreiben

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