Die Freude am Leben
zwang seine Blicke wieder zu diesen ungeheuerlichen Beinen, diesen leblosen Paketen fahlen Fleisches hin, deren Aussehen ihm vor Angst vollends die Kehle zuschnürte. Als seine Cousine ihn so fassungslos sah, hielt sie es für klug, ihn hinauszuschicken. Sie näherte sich ihm, und als Frau Chanteau, vom bloßen Umbetten sehr erschöpft, einschlief, sagte sie ganz leise:
»Du solltest lieber gehen.«
Er kämpfte einen Augenblick, Tränen machten ihn blind. Aber er mußte nachgeben, beschämt ging er hinunter und stammelte:
»Mein Gott! Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr!«
Als die Kranke wieder erwachte, bemerkte sie die Abwesenheit ihres Sohnes zunächst gar nicht. Eine Erstarrung schien über sie zu kommen, sie zog sich in sich selbst zurück, in dem egoistischen Bedürfnis, zu fühlen, daß sie lebte. Nur die Anwesenheit Paulines beunruhigte sie, obgleich diese abseits saß und, ohne zu sprechen, ohne sich zu rühren, sich verborgen hielt. Da ihre Tante den Kopf vorgereckt hatte, glaubte sie jedoch, sie mit einem Wort unterrichten zu müssen.
»Ich bin es, ängstige dich nicht ... Lazare ist nach Verchemont gegangen, wo er beim Tischler vorsprechen muß.«
»Gut, gut«, murmelte Frau Chanteau.
»Du bist doch nicht so leidend, nicht wahr, daß ihn das hindern würde, seinen Angelegenheiten nachzugehen.«
»Gewiß.«
Von diesem Augenblick an sprach sie nur noch selten von ihrem Sohn, trotz der Anbetung, die sie ihm noch am Abend zuvor bezeigt hatte. Er entschwand aus ihrem restlichen Leben, nachdem er Sinn und Ziel ihres ganzen Daseins gewesen. Die Zersetzung des Gehirns, die sich bei ihr bemerkbar machte, verdrängte alle Gedanken außer den an ihren Gesundheitszustand. Sie nahm die Pflege ihrer Nichte an, anscheinend ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, daß sie Lazares Stelle eingenommen hatte, einzig damit beschäftigt, ihr mit den Augen zu folgen, wie abgelenkt durch das wachsende Mißtrauen, das sie empfand, wenn sie sie ständig vor ihrem Bett hin und her gehen sah.
Währenddessen war Lazare in die Küche hinuntergegangen, verstört, mit weichen Knien. Das ganze Haus machte ihm angst: Er konnte nicht in seinem Zimmer bleiben, dessen Leere ihn erdrückte, er wagte nicht, durch das Eßzimmer zu gehen, wo der Anblick seines friedlich die Zeitung lesenden Vaters ihn mit Schluchzen erstickte. Und so kam er immer wieder in die Küche zurück, den einzigen warmen und lebendigen Winkel, beruhigt, daß er Véronique hier fand, die wie an den guten Tagen der Ruhe mit ihren Kochtöpfen hantierte. Als sie sah, wie er sich wieder neben dem Herd auf dem Strohstuhl niederließ, den er sich erwählt hatte, sagte sie ihm offen, was sie über seinen geringen Mut dachte.
»Wahrhaftig, Herr Lazare, Sie sind keine große Hilfe. Wieder wird das arme Fräulein alles auf dem Halse haben ... Man könnte meinen, daß es hier noch nie einen Kranken gegeben hat; und was das erstaunlichste ist, Sie haben Ihre Cousine sehr gut gepflegt, als sie an ihrem Halsleiden beinahe gestorben wäre ... Na? Sie können nicht das Gegenteil behaupten, Sie sind vierzehn Tage da oben geblieben und haben sie wie ein Kind gebettet.«
Lazare hörte ihr überrascht zu. Er hatte an diesen Widerspruch nicht gedacht. Warum konnte man auf so unterschiedliche und unlogische Art empfinden?
»Das stimmt«, wiederholte er. »Das stimmt.«
»Sie ließen niemand hereinkommen«, fuhr das Hausmädchen fort. »Und Mademoiselle Pauline war noch trauriger anzusehen als Frau Chanteau, denn sie hatte solche Schmerzen. Ich kam immer ganz aufgelöst wieder herunter, ohne auch nur einen Happen Brot hinunterzukriegen ... Und heute dreht sich Ihnen das Herz um, schon wenn Sie Ihre Mutter im Bett sehen! Sie würden ihr nicht einmal eine Tasse Tee bringen ... Mag Ihre Mutter sein, wie sie ist, aber sie ist nun mal Ihre Mutter.«
Er hörte nicht mehr, er blickte starr vor sich hin ins Leere. Schließlich murmelte er:
»Was willst du? Ich kann nicht ... Vielleicht, weil es eben Mama ist, aber ich kann einfach nicht ... Wenn ich sie mit ihren Beinen sehe und mir sage, daß sie verloren ist, dann zerreißt etwas in meinem Innern, und ich würde wie ein Tier schreien, wenn ich nicht aus dem Zimmer flüchtete.«
Sein ganzer Körper wurde wieder von einem Zittern geschüttelt, er hatte ein vom Tisch gefallenes Messer vom Boden aufgehoben und betrachtete es, ohne es zu sehen, mit tränennassen Augen. Es herrschte Schweigen. Véronique steckte ihren Kopf in den
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