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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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wo es schon nicht übel ist, wenn man die ersten Zeilen in dieser komplizierten Maschine des menschlichen Gerippes entziffern kann.«
    Er ärgerte sich, er schrieb sein Rezept mit zorniger Feder, die das dünne Papier durchlöcherte. Der Marinearzt kam in den schroffen Bewegungen seines großen Körpers wieder zum Vorschein. Doch als er aufgestanden war, besänftigte sich sein von den Seewinden gegerbtes altes Gesicht, als er Lazare und Pauline mit gesenktem Kopf verzweifelt vor sich stehen sah.
    »Meine armen Kinder«, begann er wieder. »Wir werden unser möglichstes tun, um sie da herauszuholen ... Ihr wißt, daß ich nicht den großen Mann vor euch spielen will. Nun denn, offen gestanden, ich kann nichts sagen. Es scheint mir jedoch, daß keine unmittelbare Gefahr besteht.«
    Und er ging, nachdem er sich vergewissert hatte, daß Lazare Digitalistinktur hatte. Die Verordnung beinhaltete nur Einreibungen der Beine mit dieser Tinktur und einige Tropfen in einem Glas Zuckerwasser. Das genügte für den Augenblick, er würde am nächsten Tag Pillen mitbringen. Vielleicht würde er sich zu einem Aderlaß entschließen. Pauline indessen hatte ihn bis zu seinem Wagen begleitet, um ihn nach der vollen Wahrheit zu fragen; doch die volle Wahrheit war in der Tat, daß er sich nicht zu äußern wagte. Als sie wieder in die Küche kam, war Lazare dabei, die Verordnung noch einmal durchzulesen. Schon das Wort Digitalis hatte ihn von neuem erbleichen lassen.
    »Ängstigen Sie sich doch nicht so sehr!« sagte Véronique, die sich ans Kartoffelschälen gemacht hatte, um dazubleiben und etwas zu hören. »Die Ärzte sind alles Pfuscher. Wenn der nicht weiß, was er sagen soll, dann wohl, weil es nichts Besonderes ist.«
    Sie verweilten noch im Gespräch, während die Köchin ihre Kartoffeln in eine Schüssel schnitt. Auch Pauline zeigte sich beruhigt. Am Morgen war sie hineingegangen, ihre Tante zu umarmen, und sie hatte sie gut aussehend gefunden, mit solchen Wangen konnte man nicht sterben. Aber Lazare wendete das Rezept zwischen seinen fiebrigen Fingern hin und her. Das Wort Digitalis flammte auf: Seine Mutter war verloren.
    »Ich gehe wieder hinauf«, sagte er schließlich.
    An der Tür zögerte er und fragte seine Cousine:
    »Kommst du einen Augenblick mit?«
    Auch sie zögerte ein wenig.
    »Ich habe Angst, sie zu verdrießen«, murmelte sie.
    Es herrschte verlegenes Schweigen, und er ging allein hinauf, ohne ein weiteres Wort.
    Um seinen Vater nicht zu beunruhigen, erschien Lazare zum Mittagessen wieder; er war sehr bleich. Von Zeit zu Zeit rief ein Klingelzeichen Véronique, die mit Tellern voll Suppe kam und ging, welche die Kranke kaum anrührte; und wenn sie wieder herunterkam, erzählte sie Pauline, daß der arme junge Mann dort oben den Kopf verliere. Es war ein Jammer, mit anzusehen, wie er angesichts seiner Mutter mit ungeschickten Händen und verstörtem Gesicht vor Fieber zitterte, als fürchtete er jeden Augenblick, sie in seinen Armen dahinscheiden zu fühlen. Gegen drei Uhr war die Magd wieder hinaufgegangen, als sie auch schon, sich über das Geländer beugend, nach dem jungen Mädchen rief. Als Pauline dann auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks war, sagte Véronique:
    »Sie sollten hineingehen, Mademoiselle Pauline, um ihm zur Hand zu sein. Um so schlimmer, wenn es Frau Chanteau ärgert! Sie will, daß er sie umdreht, und Sie sollten ihn bloß zittern sehen, ohne daß er sie auch nur anzurühren wagt! Dabei verbietet sie mir, ihr nahe zu kommen.«
    Pauline trat ein. Aufrecht sitzend, an drei Kopfkissen gelehnt, schien Frau Chanteau nur aus Faulheit das Bett zu hüten, wäre nicht der kurze und beschwerliche Atem gewesen, der ihre Schultern hob. Vor ihr stand Lazare und stammelte:
    »Also du willst, daß ich dich auf die rechte Seite lege?«
    »Ja, schieb mich ein wenig ... Ach, mein armes Kind, wie bist du doch schwer von Begriff!«
    Schon hatte das junge Mädchen sie sanft gefaßt und drehte sie herum.
    »Laß mich machen, ich bin es von meinem Onkel gewohnt ... Liegst du so gut?«
    Gereizt schimpfte Frau Chanteau, daß man sie stoße. Sie konnte nicht eine Bewegung machen, ohne sogleich zu ersticken, und sie blieb eine Minute keuchend und mit fahlem Gesicht liegen. Lazare war hinter die Bettvorhänge zurückgetreten, um seine Verzweiflung zu verbergen. Er blieb jedoch noch, während Pauline die Beine der Kranken mit der Digitalistinktur einrieb. Er wandte den Kopf ab, doch ein Bedürfnis, zu sehen,

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