Die Freude am Leben
Anblick dieser von dem Ödem geschwollenen, ungeheuren und bleichen armen Beine, die wie schon abgestorbene Baumstämme aussahen, mit entsetzter Rührung erfüllt. Was denn? Trat von einer Minute zur anderen so das Unglück ein? Auch jetzt noch, da er auf einer Ecke seines großen Tisches saß, am ganzen Leibe zitternd, wagte er nicht, die Krankheit, die er soeben erkannt hatte, laut beim Namen zu nennen. Stets hatte ihn das Grauen vor einer Herzkrankheit für sich und die Seinen verfolgt, ohne daß ihm seine beiden Jahre Medizinstudium die Gleichheit aller Übel vor dem Tod bewiesen hätten. Am Herzen getroffen zu werden, an der Quelle des Lebens selber, blieb in seinen Augen der grauenvolle, erbarmungslose Tod. Und diesen Tod würde seine Mutter sterben, und er selber würde ihn danach gewiß auch sterben!
»Warum härmst du dich so?« fuhr Pauline fort. »Es gibt Wassersüchtige, die sehr lange leben. Erinnerst du dich an Frau Simonnot? Sie ist schließlich an einer Lungenentzündung gestorben.«
Aber er schüttelte den Kopf, er war kein Kind, daß man ihn so täuschen konnte. Seine herabhängenden Füße schlugen ins Leere, das Zittern seines Körpers hörte nicht auf, während er die Augen hartnäckig auf das Fenster gerichtet hielt. Da küßte sie ihn zum ersten Mal nach dem Bruch wie früher auf die Stirn. Sie fanden sich Seite an Seite wieder in diesem Zimmer, in dem sie groß geworden waren, all ihr Groll versank in dem großen Kummer, von dem sie bedroht waren. Sie trocknete sich die Augen. Er konnte nicht weinen und wiederholte mechanisch:
»Sie ist verloren, sie ist verloren.«
Gegen elf Uhr, als Doktor Cazenove eintrat, wie er es gewöhnlich jede Woche tat, wenn er wieder von Bonneville heraufkam, schien er sehr erstaunt, Frau Chanteau im Bett vorzufinden. Was hatte sie denn, die liebe gnädige Frau? Und er scherzte sogar: Das ganze Haus sei überempfindlich, man werde es allen Ernstes in ein Lazarett umwandeln. Aber als er die Kranke untersucht, abgetastet und behorcht hatte, wurde er ernster; er brauchte sogar seine lange Berufserfahrung, um nicht ein wenig Bestürzung zu verraten.
Im übrigen war Frau Chanteau der Ernst ihres Zustandes keineswegs bewußt.
»Ich hoffe, Sie werden mir da heraushelfen, Doktor«, sagte sie mit fröhlicher Stimme. »Sehen Sie, ich habe nur die eine Angst, daß diese Schwellung mich erstickt, wenn sie immer höher steigt.«
»Seien Sie beruhigt, das steigt nicht so ohne weiteres«, erwiderte er ebenfalls lachend. »Und außerdem werden wir es schon aufzuhalten wissen.«
Lazare, der nach der Untersuchung wieder hereingekommen war, hörte ihm zitternd zu, darauf brennend, ihn beiseite zu nehmen und ihn auszufragen, um endlich Gewißheit zu haben.
»So, liebe Frau Chanteau«, fuhr der Doktor fort. »Machen Sie sich keine Gedanken, ich komme morgen wieder, mit Ihnen zu plaudern ... Auf Wiedersehen, ich werde mein Rezept unten ausschreiben.«
Pauline ließ sie unten nicht ins Eßzimmer, denn man sprach zu Chanteau immer nur von einem harmlosen Erschöpfungszustand. Sie hatte schon Tinte und Papier auf dem Küchentisch bereitgestellt. Angesichts ihrer beider angstvollen Ungeduld gestand Doktor Cazenove, daß es ernst um Frau Chanteau stehe; aber er gebrauchte lange, verworrene Sätze und vermied es, zu einem Schluß zu kommen.
»Sie ist also verloren«, rief Lazare in einer Art Gereiztheit. »Es ist das Herz, nicht wahr?«
Pauline warf dem Arzt einen flehenden Blick zu, den dieser verstand.
»Oh, das Herz!« sagte er. »Das bezweifle ich ... Im übrigen, wenn sie auch nicht wieder ganz auf die Beine kommt, so kann sie bei schonender Behandlung vielleicht noch lange damit leben.«
Der junge Mann hatte darauf nur sein Achselzucken, die Gebärde eines zornigen Kindes, das sich keineswegs durch die Märchen täuschen läßt, mit denen man es belustigt. Er fuhr fort:
»Und Sie haben mich nicht gewarnt, Doktor, obwohl Sie sie doch unlängst erst behandelt haben! Diese greulichen Sachen da kommen niemals ganz plötzlich. So hatten Sie also nichts gesehen?«
»Doch, doch«, murmelte Cazenove. »Ich hatte wohl einige kleine Anzeichen bemerkt.« Dann, als Lazare ein verächtliches Lachen überkam:
»Hören Sie, mein Bester, ich halte mich nicht für dümmer als andere, und doch geschieht es mir nicht zum ersten Mal, daß ich nichts vorausgesehen habe und wie dumm vor einer Krankheit stehe ... Sie fallen einem auf die Nerven mit Ihrer Forderung, daß man alles wissen soll,
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