Die Freude am Leben
Mund offenstehen.
»Nanu, was ist denn los? Das ist vielleicht ein Gedanke!«
»Ich habe noch keine Lust abzukratzen«, sagte Frau Chanteau und ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken. »Da, horch nur, meine Lungen sind kräftig. Und sie könnte leicht vor mir abkratzen, denn sie hat kein sehr gesundes Fleisch.«
Pauline hatte diese Worte gehört. Ins Herz getroffen, wandte sie sich um und sah Véronique an. Anstatt vorzutreten, wich sie noch mehr zurück und schämte sich für ihre Tante dieses abscheulichen Verdachts. Eine Entspannung vollzog sich in ihr, es überkam sie großes Mitleid angesichts dieser von Angst und Haß verheerten Unglücklichen; und weit davon entfernt, darüber neuen Groll zu empfinden, fühlte sie sich von schmerzlicher Rührung überwältigt, als sie sich bückte und dabei unter dem Bett die Medikamente erblickte, die die Kranke aus Furcht vor Gift dorthin warf. Bis zum Abend zeigte sie eine heldenmütige Sanftheit, sie schien nicht einmal die unruhigen Blicke zu bemerken, die ihre Hände beobachteten. Ihr glühender Wunsch war es, durch ihre gütige Fürsorge die Ängste der Sterbenden zu besiegen, sie nicht diesen grauenvollen Gedanken mit ins Grab nehmen zu lassen. Sie verbot Véronique, Lazare diese Geschichte zu erzählen und ihn dadurch noch mehr zu erschrecken.
Seit dem Morgen hatte Frau Chanteau nur ein einziges Mal nach ihrem Sohn gefragt; und sie hatte sich mit der erstbesten Antwort zufriedengegeben, ohne sich zu wundern, daß sie ihn nicht mehr sah. Übrigens sprach sie noch weniger von ihrem Gatten, sie sorgte sich nicht darum, was er wohl allein im Eßzimmer tun mochte. Alles verschwand für sie, die Kälte in ihren Beinen schien von Minute zu Minute zu steigen und ihr das Herz erstarren zu lassen. Und zu jeder Mahlzeit mußte Pauline hinuntergehen, um ihren Onkel zu belügen. An jenem Abend täuschte sie sogar Lazare und versicherte ihm, daß die Schwellung zurückgehe.
Doch in der Nacht machte das Leiden beängstigende Fortschritte. Als das junge Mädchen und die Magd am nächsten Morgen bei hellem Tageslicht die Kranke wiedersahen, waren sie betroffen von dem irren Ausdruck ihrer Augen. Das Gesicht hatte sich nicht verändert, und sie hatte noch immer kein Fieber; nur der Verstand schien ergriffen zu werden, eine fixe Idee vollendete die Zerstörung dieses Hirns. Es war das letzte Stadium, in dem das Wesen allmählich von einer einzigen, in Raserei umgeschlagenen Leidenschaft verzehrt wird.
Der Morgen vor der Ankunft Doktor Cazenoves war entsetzlich. Frau Chanteau wollte nicht einmal mehr, daß ihre Nichte sich ihr näherte.
»Laß dich doch pflegen, ich bitte dich«, wiederholte Pauline. »Ich werde dich einen Augenblick anheben, du liegst ja so schlecht.«
Da schlug die Sterbende um sich, als wollte man sie erwürgen.
»Nein, nein, du hast deine Schere, du bohrst sie mir absichtlich ins Fleisch ... Ich spüre sie sehr wohl, ich blute überall.«
Mit zerrissenem Herzen mußte das junge Mädchen sich fernhalten; und sie taumelte vor Müdigkeit und Kummer, sie wurde von ohnmächtiger Güte überwältigt. Damit ihre geringste Sorgfalt angenommen wurde, mußte sie Grobheiten und Anklagen erdulden, die sie in Tränen ausbrechen ließen. Manchmal sank sie erschlagen auf einen Stuhl und weinte, da sie nicht mehr wußte, wie sie diese in Wut verwandelte einstige Zuneigung wiedergewinnen sollte. Dann kam wieder Ergebung über sie, und sie tat noch einmal alles nur Erdenkliche, sie verdoppelte ihre Sanftmut. Doch an jenem Tage hatte ihre Beharrlichkeit einen Anfall zur Folge, der sie noch lange erzittern ließ.
»Tante«, sagte sie und machte den Löffel zurecht, »es ist Zeit für deine Arznei. Du weißt, der Arzt hat dir sehr ans Herz gelegt, sie pünktlich zu nehmen.«
Frau Chanteau wollte die Flasche sehen und roch schließlich daran.
»Ist es dieselbe wie gestern?«
»Ja, Tante.«
»Ich will nichts davon.«
Ihre Nichte erreichte indessen mit vielen schmeichelnden Bitten, daß sie einen Löffel voll nahm. Das Gesicht der Kranken drückte großes Mißtrauen aus. Und sowie sie die Flüssigkeit im Munde hatte, spuckte sie sie heftig auf die Erde, von einem Hustenanfall geschüttelt, und stammelte unter Röcheln: »Das ist Vitriol, das verbrennt mich.«
Ihr Abscheu und ihr Schrecken vor Pauline, die seit dem Tage, da sie ihr ein erstes Zwanzigfrancsstück genommen, allmählich gewachsen waren, brachen endlich in der äußersten Zerrüttung durch ihr Leiden in
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