Die Freude am Leben
mehr den Mut, hinunterzugehen, um Lazare und Chanteau den Tod mitzuteilen. Die Wände drehten sich um sie. Einige Minuten vergingen, sie faßte nach dem Geländer, hörte im Eßzimmer die Stimme des Abbé Horteur und zog es vor, in die Küche zu gehen. Dort aber bemerkte sie Lazare, dessen düstere Silhouette sich vom roten Widerschein des Herdes abhob. Ohne ein Wort ging sie mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Er hatte begriffen, er sank an die Schulter des jungen Mädchens, während sie ihn in einer langen Umarmung an sich drückte. Dann küßten sie sich auf die Wangen. Sie weinte still vor sich hin, er aber konnte nicht eine Träne vergießen, es würgte ihn so, daß sein Atem stockte. Endlich löste sie die Arme und sagte den ersten besten Satz, der ihr auf die Lippen kam:
»Warum sitzt du denn ohne Licht?«
Er machte eine Gebärde, wie um zu bekunden, daß er in seinem Kummer kein Licht brauche.
»Wir müssen eine Kerze anzünden«, begann sie wieder.
Lazare war auf einen Stuhl gesunken, unfähig, sich auf den Beinen zu halten. Mathieu lief sehr unruhig um den Hof und schnupperte die feuchte Nachtluft. Er kam wieder herein, sah sie nacheinander fest an, ging zu seinem Herrn und legte ihm seinen dicken Kopf auf das Knie; und so blieb er unbeweglich stehen und schien ihn aus nächster Nähe, Auge in Auge zu befragen. Vor diesem Hundeblick begann Lazare zu zittern. Auf einmal stürzten die Tränen hervor, er brach in Schluchzen aus, die Hände um das alte Haustier geschlungen, das seine Mutter seit vierzehn Jahren liebte. Er stammelte abgerissene Worte.
»Ach, mein armer Dicker, mein armer Dicker! Wir werden sie nicht mehr sehen.«
Pauline hatte schließlich trotz ihrer Verwirrung eine Kerze gefunden und angezündet. Sie versuchte nicht, ihn zu trösten, glücklich über seine Tränen. Eine schwere Aufgabe blieb ihr noch, nämlich ihren Onkel zu verständigen. Aber als sie sich entschloß, ins Eßzimmer hinüberzugehen, wohin Véronique bei Einbruch der Dämmerung eine Lampe gebracht, hatte Abbé Horteur mit langen geistlichen Wendungen Chanteau soeben mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß seine Frau verloren und es nur noch eine Frage von Stunden sei. Darum erriet der alte Mann die Katastrophe, als er seine Nichte verstört und mit roten Augen hereinkommen sah. Sein erster Ausruf war:
»Mein Gott! Ich hätte nur eines gewollt, sie noch einmal lebend wiederzusehen ... Ach, diese verflixten Beine! Diese verflixten Beine!«
Darüber ging es bei ihm kaum hinaus. Er weinte kleine Tränen, die rasch trockneten, stieß schwache Seufzer eines Kranken aus; und er kam schnell auf seine Beine zurück, beschimpfte sie, bedauerte schließlich sich selbst. Einen Augenblick erwog man die Möglichkeit, ihn ins erste Stockwerk hinaufzutragen, damit er die Tote küssen könne; dann aber hielt man es, abgesehen von der Schwierigkeit eines solchen Vorhabens, für gefährlich, ihm die Erschütterung dieses letzten Lebewohls zuzumuten, nach dem er im übrigen nicht mehr verlangte. Und so blieb er im Eßzimmer vor dem durcheinandergeratenen Damebrett, ohne zu wissen, womit er seine armen kranken Hände beschäftigen sollte, sogar ohne einen genügend klaren Kopf, wie er sagte, um seine Zeitung zu lesen und zu begreifen. Als man ihn zu Bett brachte, mußten wohl ferne Erinnerungen in ihm wach werden, denn er weinte sehr.
Nun verstrichen zwei lange Nächte und ein endloser Tag, diese schrecklichen Stunden, in denen der Tod im Hause wohnt. Cazenove war nur wiedergekommen, um den Tod zu bestätigen, wiederum überrascht von einem so schnellen Ende. Lazare, der in der ersten Nacht nicht schlafen ging, schrieb bis zum Tagesanbruch Briefe an entfernte Verwandte. Man mußte den Leichnam auf den Friedhof von Caen in die Familiengruft überführen. Der Doktor hatte es freundlicherweise übernommen, alle Formalitäten zu erledigen; und es blieb nur eine Unannehmlichkeit in Bonneville zu erfüllen, die Todesanzeige, die Chanteau in seiner Eigenschaft als Bürgermeister entgegenzunehmen hatte. Da Pauline kein angemessenes schwarzes Kleid besaß, richtete sie sich mit Hilfe eines alten Rockes und eines Merinoschals, aus dem sie sich ein Mieder schneiderte, eilig ein solches her. Die erste Nacht und auch der Tag darauf vergingen noch im Fieber dieser Beschäftigungen; doch die zweite Nacht wurde zur Ewigkeit, endlos durch die schmerzliche Erwartung des nächsten Tages. Niemand konnte schlafen, die Türen blieben offen, angezündete Kerzen
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