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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Wortschwall der Sterbenden drang.
    »Sie meinen also, daß sie den Tag überstehen wird?« fragte das junge Mädchen.
    »Ja, sie wird es zweifellos bis morgen schaffen«, erwiderte Cazenove. »Aber richten Sie sie nicht mehr auf, sie könnte Ihnen in den Armen bleiben ... Übrigens komme ich heute abend wieder.«
    Es wurde vereinbart, daß Abbé Horteur bei Chanteau bleiben und ihn auf die Katastrophe vorbereiten solle. Véronique hörte auf der Türschwelle mit verstörter Miene, wie diese Vorkehrungen getroffen wurden. Seit sie an die Möglichkeit des Todes von Frau Chanteau glaubte, tat sie die Lippen nicht mehr auseinander, mit der Ergebenheit eines Lasttieres eifrig um sie bemüht. Doch alle schwiegen jetzt, Lazare kam herauf; er irrte durch das Haus und fand nicht die Kraft, den Besuchen des Doktors beizuwohnen und die Gefahr genau zu erkennen. Das plötzliche Schweigen, das ihn empfing, unterrichtete ihn gegen seinen Willen. Er wurde sehr bleich.
    »Mein liebes Kind«, sagte der Arzt, »Sie sollten mich begleiten. Sie könnten mit mir Mittag essen, und ich würde Sie heute abend wieder zurückbringen.«
    Der junge Mann war noch bleicher geworden.
    »Nein, danke«, murmelte er. »Ich will mich nicht entfernen.«
    Von nun an wartete Lazare mit entsetzlich beklommener Brust. Ein eiserner Gürtel schien ihm die Rippen zusammenzupressen. Der Tag wurde zur Ewigkeit, und er verging dennoch, ohne daß Lazare gewußt hätte, auf welche Weise die Stunden dahinflossen. Er konnte sich nie daran erinnern, was er getan hatte, wie er hinauf und hinuntergegangen war und das Meer in der Ferne betrachtet hatte, dessen gewaltiges Wogen ihn vollends schwindlig machte. Der unaufhaltsame Ablauf der Minuten nahm für Augenblicke Gestalt an, wurde in ihm zum Stoß eines Granitbalkens, der alles in den Abgrund fegte. Dann geriet er außer sich, hätte er gewollt, daß alles zu Ende wäre, um sich endlich von diesem abscheulichen Warten auszuruhen. Als er gegen vier Uhr wieder einmal in sein Zimmer hinaufging, trat er unvermittelt bei seiner Mutter ein: Er wollte sie sehen, er hatte das Bedürfnis, sie noch einmal zu küssen. Doch als er sich über sie beugte, fuhr sie fort, das verworrene Knäuel ihrer Sätze abzuspulen, hielt sie ihm nicht einmal die Wange hin mit dem müden Ausdruck, mit dem sie ihn seit ihrer Krankheit empfing. Vielleicht sah sie ihn gar nicht einmal. Das war nicht mehr seine Mutter, dieses bleifarbene Gesicht mit den schon schwarzen Lippen.
    »Geh«, sagte Pauline sanft. »Geh ein wenig aus ... Ich versichere dir, die Stunde ist noch nicht gekommen.«
    Und statt in sein Zimmer hinaufzugehen, flüchtete Lazare. Er ging hinaus und nahm das Bild dieses schmerzerfüllten Antlitzes mit sich, das er nicht mehr wiedererkannte. Seine Cousine belog ihn, die Stunde würde kommen; allein er erstickte, er brauchte Weite, er schritt wie ein Wahnsinniger aus. Dieser Kuß war der letzte. Der Gedanke, seine Mutter nie wiederzusehen, niemals, erschütterte ihn aufs heftigste. Aber er glaubte, jemand liefe hinter ihm her, er wandte sich um; und als er Mathieu erkannte, der ihn mit seinen schwerfälligen Pfoten einzuholen suchte, geriet er ohne jeden Grund in Wut, nahm Steine und warf damit nach dem Hund, wobei er Schimpfworte stammelte, um ihn wieder nach Hause zu scheuchen. Mathieu, der über diesen Empfang bestürzt war, entfernte sich, dann wandte er sich um und sah ihn mit sanften Augen an, in denen Tränen zu schimmern schienen. Es war Lazare unmöglich, dieses Tier zu verjagen, das ihn von weitem begleitete, wie um über seine Verzweiflung zu wachen. Auch das unermeßliche Meer regte ihn auf, er war in die Felder gestürmt, er suchte die entlegensten Winkel, um sich dort allein und verborgen zu fühlen. Bis zur Nacht streifte er umher, lief über gepflügte Äcker, sprang über lebende Hecken. Endlich machte er sich erschöpft auf den Heimweg, als er durch ein Schauspiel vor seinen Augen von abergläubischem Entsetzen gepackt wurde: Über einer großen, allein stehenden schwarzen Pappel am Rande eines einsamen Weges erhob sich der aufsteigende Mond mit einer gelben Flamme, und man hätte meinen können, eine große Kerze brenne dort in der Abenddämmerung am Kopfende irgendeiner quer über das Land gebetteten großen Toten.
    »Vorwärts, Mathieu!« rief er mit erstickter Stimme. »Beeilen wir uns.«
    Er kehrte im Laufschritt heim, so wie er losgegangen war. Der Hund hatte sich wieder zu nähern gewagt und leckte ihm die

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