Die Friesenrose
Ewigkeit von ihm und ihrer Heimat entfernt?
Überwältigt von Einsamkeit und Verzweiflung, glitt Inken am Stamm entlang zu Boden und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, bis sich endlich ein Gefühl der Erleichterung in ihr ausbreitete und sie gleichzeitig instinktiv spürte, dass sie nicht mehr alleine war. Erschrocken fuhr sie hoch und spähte in die Nacht. Doch es war niemand zu sehen, bis sich schließlich langsam, mit fast sinnlichen Bewegungen eine Gestalt aus dem Dunkeln löste. Inken erstarrte und tastete unwillkürlich nach dem Messer in ihrer Tasche.
„Keine Angst, ich bin es nur.“ Voller Erleichterung erkannte Inken Cirks Stimme. „Mich hat die Stille und die Einsamkeit hier draußen genauso gereizt wie dich. Sag, warum hast du geweint?“
Inken atmete einmal tief durch. Das passte zu diesem blauäugigen Teufel, dass er sie beim Weinen beobachtet hatte.
„Ich dachte, ich wäre allein. Wenn Sie ein höflicher Mensch wären, dann hätten Sie sich bemerkbar gemacht.“
Cirk trat näher an sie heran. „Mit Höflichkeit kann ich nicht dienen, aber ich entschuldige mich hiermit in aller Form. Das Weinen hat gutgetan, nicht wahr?“ Keine Spur von Spott lag in seiner Stimme. „Ist es wegen eines Mannes?“
„Nein!“ Inkens Stimme war wie ein Peitschenhieb. „Außerdem wüsste ich nicht, was Sie das angeht.“
„Ich wollte nur mitfühlend sein.“ Cirk hob abwehrend die Hände. „Zudem ging mir durch den Kopf, dass ich dich vielleicht würde trösten können.“ Er breitete auffordernd seine Arme aus, doch Inken verzog nur den Mund.
„Da lass ich mich doch noch lieber von einem Seehund trösten.“
„Diese Frau verwendet Worte wie Speerstiche.“ Cirk griff sich ans Herz. Dann aber blieb sein Blick an ihrer Mütze hängen, und Inken wusste im gleichen Augenblick, was er tun würde. Ihre Hände fuhren nach oben, aber Cirk war schneller. Mit einem einzigen Ruck zog er ihr die Mütze vom Kopf. Hingerissen hingen seine Augen an der rotgoldenen Pracht, die sich über Inkens Schultern ergoss.
„Wie schön du bist! Ein Feuerkopf, daher also das Temperament. Wieder ein Fuchs und keine Flinte.“ Das weiße Aufblitzen seiner Zähne im Lampenschein verriet, dass er lächelte. Spielerisch ließ er seine Finger durch ihr Haar gleiten. Inken warf den Kopf zurück. Sie wollte gehen, doch noch ehe sie etwas sagen oder einen Schritt tun konnte, hatte Cirk schon beide Hände links und rechts von ihr gegen den Stamm der Kastanie gestützt.
„Lass uns einen Augenblick die Einsamkeit teilen.“
Inken schüttelte den Kopf. „Aber nicht so, wie Sie es sich vorstellen! Ich möchte sofort gehen.“ Ihre Augen sprühten Feuer.
Cirk beobachtete sie genießerisch. „Wirklich?“ Seine Fragehatte einen trägen, sinnlichen Klang, und sein Gesicht kam näher. Inken stemmte beide Hände gegen seine Brust und wollte ihn fortstoßen, doch in diesem Moment gaben die Wolken den Mond frei, und Cirks Augen nahmen sie gefangen. Ihr Atem stockte. Unter seinem Hemd spürte sie die Wärme seiner Haut und seinen Herzschlag.
Inken fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Was wollen Sie eigentlich von mir?“
„Das weiß ich selbst noch nicht so genau. Vielleicht möchte ich dich zähmen oder auch nur wissen, wie deine Lippen schmecken.“
Er hatte den Kopf geneigt, und seine letzten Worte waren nur noch ein warmer Hauch auf ihrem Mund. Dann küsste er sie, und Inken fühlte, wie sich all ihre Vorbehalte gegen ihn in einem Strudel, einem Taumel der Gefühle auflösten. Sie vermeinte die Sonne zu sein, fühlte sich eins mit den Wellen des Meeres und mit Cirk, in dessen Armen sie lag. Seine Lippen glitten suchend über die ihren, seine Zunge erforschte fragend ihren Mund, und Inkens Körper antwortete ihm. Die Finger in die ihren geschlungen, presste er sie mit seinem Gewicht gegen den Baumstamm, und eine wohlige Trägheit ergriff Besitz von Inken.
Doch dann löste sich Cirk auf einmal von ihr und hielt sie auf Armeslänge von sich gestreckt. Er blickte ihr ins Gesicht und betrachtete das Spiel der Gefühle, die sich auf ihm malten. Schon näherte sich sein Mund wieder dem ihren, da setzte Inkens Verstand ein. Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Stumm verfluchte Inken ihre Schwäche. Erst brachte dieser unmögliche Mensch sie in Rage, danach dazu, seinen Kopf zu retten, und nun setzte er auch noch ihren Verstand außer Kraft. Cirk schien zu spüren, was in ihr vorging, denn er
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