Die Friesenrose
gibt. Und, Inken …“ Verlegen blickte er zur Tür. „Du weißt ja, ich hab’s nicht so mit der Kirche. Aber wenn das Leben so richtig an mir nagt, dann tragen meine Füße mich manchmal wie von selbst dorthin. Ich weiß nichts von heiligen Orten oder gesegneten Räumen, aber dennoch finde ich in Gottes Haus Trost. Tausendfach haben Menschen dort gehofft und gefleht. Mit ihnen allen fühle ich mich dann verbunden, und das hilft mir an verzweifelten Tagen.“
Inken war eine lange Zeit am Strand entlanggegangen. Sie war keinem bestimmten Weg gefolgt und hatte auch nicht versucht, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, sondern sich einfach treiben lassen. Es war, als habe der starke Wind für eine Weile alle Sorgen und Nöte aus ihrem Kopf geblasen.
Jetzt war es schon später Nachmittag, und sie saß aufeinem großen Stein und beobachtete die Fischer, die ihren Fang einbrachten. Gewitterwolken brauten sich über der See zusammen, während die Männer die Netze einzogen und ihre Boote vor dem heraufziehenden Sturm in Sicherheit brachten. Inken blickte hinaus auf das schaumgekrönte Wasser und lauschte den Schreien der Möwen, die nach den Fischen tauchten, die von den Booten aus zurück ins Meer geworfen wurden. Es waren schrille, einsame Schreie, die ihren Widerklang in ihrer Seele fanden.
Als die ersten Regentropfen auf den Sand fielen, stand Inken auf und eilte mit raschen Schritten dem Dorf zu. Später vermochte sie nicht mehr zu sagen, wie es gekommen war, denn eigentlich hatte ihr nicht der Sinn danach gestanden, Garrelts Rat zu folgen. Sie hatte niemals Trost in einem Gotteshaus gesucht. Für sie waren die dortigen Besuche stets nur eine lästige Pflicht gewesen. Und ihr Entschluss, auf Cirk zu warten, den sie vor langer Zeit in der Moorkirche getroffen hatte, hatte ihr nur Leid und Tränen gebracht.
Doch nun stand sie, durchnässt und leicht zitternd, in der Inselkirche, zu Füßen des Leuchtturms, wo sie wankend vor dem Altar stehen blieb. Die Stunden am Meer hatten ihr gutgetan, doch sie fühlte sich unendlich müde. Seufzend ließ sie sich auf eine der Kirchenbänke sinken. Während der Franzosenzeiten hatte das Gotteshaus einigen Soldaten als Quartier gedient. Im Winter war ihnen das Kirchengestühl als Brennnmaterial gerade recht gekommen, das jetzt durch einfache Bänke ersetzt worden war.
Um das Gebäude tobte der Sturm, und durch eines der kleinen Fenster sah Inken Blitze am Himmel zucken. Sie würde wohl oder übel eine Weile hier ausharren müssen. Aufmerksam wanderten ihre Augen durch den Raum, der ihr seit ihren Kindertagen vertraut und doch so merkwürdig fremdwar. Ein Gang teilte die Holzbänke und führte zum Altar, den Blumen und Kerzen schmückten. An einem Holzkreuz darüber hing der gepeinigte Christus. Trotz aller Qualen wirkte der Sohn Gottes erhaben und unbeugsam. So, als ob nichts und niemand seine Stärke brechen könnte – nicht einmal die Nägel, mit denen sein Leib an das Kreuz geschlagen war, nicht einmal der Tod.
Inken schloss die Augen. Sie war kein göttliches Wesen. Und wenn nur etwas mehr Stärke in ihr gewohnt hätte, wäre sie schon längst auf dem Weg nach Thüringen gewesen. Inken fror. Ihre Kleidung fühlte sich ungemütlich feucht an, und mit einer raschen Bewegung zog sie die von Garrelt geliehene durchnässte Jacke aus. Ihre klammen Hände suchten Wärme in den Taschen ihres dünnen Kleides. Dabei streiften sie ein Stück Papier. Es musste der Brief sein, den Cirk ihr hatte aufdrängen wollen. Das Meer wäre der rechte Aufbewahrungsort für ihn gewesen. Jetzt brachte er mit Macht die Erinnerung an ihre morgendliche Begegnung mit Cirk zurück. Und als ob sie einem inneren Zwang gehorchen müsste, zog Inken das Blatt Papier aus der Rocktasche. Zögernd nur glätteten ihre Hände den zerknitterten Bogen, dann hatten sich ihre Augen auch schon an den Zeilen festgesogen.
Liebster Cirk ,
durch deinen Brief an Inken, den ich im Nachlass von Thomas fand, habe ich davon erfahren, dass du für eine lange Zeit nach China reisen musstest. Ich hoffe, dass du mittlerweile wohlbehalten von dort zurückgekehrt bist und meine Zeilen dich erreichen .
Vielleicht tut es dir weh zu erfahren, dass ich leider nicht auf dich warten konnte. Aber zwei Jahre sind einfach zu lang, zumal meine wahre Liebe ja niemals dir, sondern einem anderengalt. Und – du wirst es nicht glauben – mein spanischer Kapitän ist zu mir zurückgekehrt! Nachdem er von meiner Schwangerschaft erfahren hatte,
Weitere Kostenlose Bücher