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Die Friesenrose

Die Friesenrose

Titel: Die Friesenrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Oltmanns
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zu können. Wie sehr sie sich nach Ruhe sehnte – und nach einer guten Tasse Tee. Aus der Küche holte sie Geschirr und goss das Getränk auf. Das Tablett in einer Hand haltend und ihre Enkeltochter an der anderen, schlich die alte Frau zum entgegengesetzten Ende des Hauses, wo sich der Nebeneingang zum Teemuseum befand. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, atmete sie auf. Die Unruhe des Tages blieb draußen, und sie betraten eine andere Welt. Die Welt des Tees!
    Zielstrebig gingen Großmutter und Enkelin durch die Räume. Vorbei an kostbarem Geschirr, Schiffsmodellen, Bildernaus China und wunderschön bemalten Teekisten. Die Augen des Mädchens leuchteten. Immer wieder musste ihre Großmutter stehen bleiben. Das Kind schien die Eindrücke in sich aufzusaugen. Kein Wort fiel zwischen ihnen. Reden lag der Älteren nicht, und der Kleinen schien die Wärme ihrer Hand zu genügen. Sie war ein ernsthaftes, stilles Kind. Eine kupferfarbene Lockenmähne umgab ihren Kopf wie eine Wolke. Kein Kamm schaffte es, das Haar zu bezwingen.
    Lächelnd blickte ihre Großmutter auf die Haarpracht. Auch aus ihrem eigenen elegant gesteckten Knoten hatten sich wieder einmal mehrere widerspenstige Locken gelöst. Dieses rote Haar schien immer eine Generation zu überspringen. Sie selbst besaß es und nun auch wieder dieses Kind an ihrer Hand.
    Sie kamen im Ostfriesenzimmer an, wo alles noch so war wie vor 200 Jahren. Die handgefertigten Möbel vermittelten den Eindruck von Gediegenheit. Den Fußboden bedeckten rote Steingutplatten. Über dem offenen Kamin hing ein Teekessel. Der Rauchfang war mit einem Holzbord verkleidet, und blau-weiße Kacheln zierten den gesamten Schornsteinmantel. An der Wand befand sich ein Fliesentableau, das von dem Walfang erzählte.
    Das Mädchen kuschelte sich in einen der gepolsterten Stühle. Und während ihr Blick durch den Raum schweifte, deckte die alte Frau den Tisch mit dem Geschirr ein. Ein erstaunter Ruf des Kindes ließ sie innehalten. Die Kleine hatte das Gemälde entdeckt und betrachtete es mit großen Augen.
    „Die Frau hat Haare so wie ich.“ Fragend schaute sie ihre Großmutter an.
    Diese strich ihr über die wilden Locken. „Das ist Inken Hinderks.“
    Das kleine Mädchen stand auf und stellte sich dicht vordas Gemälde. Sie wies mit dem Finger auf das Gesicht ihrer Vorfahrin. „Sie hat Augen wie du, Oma.“
    Sanft umfasste die Großmutter ihre Hand und führte das Kind zum Stuhl zurück. „Jetzt will ich dir von Inken erzählen und, wie versprochen, von der Chinesin Sumi, die aus ihrer Heimat geflohen ist.“
    Das kleine Mädchen schaute sie erwartungsvoll an. Der Tee dampfte in den Tassen, und sein Geruch umgab beide wie ein guter Freund. Die alte Dame nahm ihn tief in sich auf und wurde ganz ruhig. Der Kluntje, ein kleiner Zuckerhügel, lugte aus dem Sahnewölkchen hervor.
    Die Kleine kletterte auf den Schoß der Großmutter und kuschelte sich eng an sie. Ihre roten Locken kitzelten den Hals der Älteren, und sanft strich ihr diese das Haar zur Seite. Immer wieder glitt ihr Blick zum Gemälde an der Wand und dann zurück zu dem Kind auf ihrem Schoß. Das gleiche Gesicht, das gleiche Haar. Wie war das nur möglich?
    Die Frau auf dem Bild war ihr fremd und doch eigenartig vertraut. Inkens Augen blickten ihr ruhig entgegen. Sanftmut, aber auch Beharrlichkeit lagen darin. Es waren die Augen ihrer Enkelin. Es waren ihre eigenen Augen, die sie sah!
    Seufzend nahm die alte Frau einen Schluck heißen Tee. Die Wolke aus Sahne und der süße Bodensatz ließen das herbe Getränk zu einer Köstlichkeit werden. Aufatmend lehnte sie sich zurück.
    Das kleine Mädchen zog ihre Großmutter am Ärmel. „Erzählst du mir nun von Sumi?“
    Die alte Dame nickte, doch das sah ihre Enkeltochter nicht. „Ja, und davon, wie der Tee zu uns nach Ostfriesland kam.“
    Die alte Frau stellte vorsichtig ihre Tasse ab. Wieder glitten ihre Augen zu der Frau auf dem Gemälde, die ebenfalls eineTasse Tee in ihrer Hand hielt. Es war nicht allein das rote Haar, das die Jahrhunderte überdauert hatte. Ein Schauer lief der alten Dame über den Rücken. Es schien Dinge zu geben, die für die Ewigkeit bestimmt waren. So wie der Tee. Die Leidenschaft für das Getränk währte bis heute fort.
    „Es gibt Dinge, für die riskieren Menschen ihr Leben“, ging es ihr durch den Sinn. „In Ostfriesland gehört der Tee dazu!“
     
    *
    Ob ich morgen leben werde, weiß ich freilich nicht.
    Aber dass ich, wenn ich morgen

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