Die Frucht des Bösen
er.
In dem Moment, da ich das Schwarze seiner Augen sehe, dämmert es mir. Ich glaube zu wissen, warum er so ruhig wirkt. In seinem Inneren herrscht kein Aufruhr mehr. Er hat sich dem Phantom ergeben. Er hat es gewinnen lassen.
Fassungslos starre ich auf das Schälmesser, auf mein Blut, das von seinen dünnen, bleichen Fingern auf den Wildlederbezug des Sofas tropft. Der Schmerz macht sich jetzt erst richtig bemerkbar, heiß und flammend, nicht nur oberflächlich. Es sind auch irgendwelche Organe betroffen, wie ich spüre. Mir wird schwindlig.
So ein schöner Tag,
denke ich.
Dass es ausgerechnet an einem so schönen Tag passiert.
Ich schaue meinen Sohn an und tue, was jede Mutter tun würde.
Ich ergreife seine blutige Hand und sage, ehe es dunkel um mich wird: «Keine Sorge. Es wird alles wieder gut, Evan. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben.»
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26 . Kapitel
Danielle
Ich war beurlaubt, hatte also auf der Station nichts mehr zu suchen. Man riet mir, nach Hause zu gehen, zu duschen, etwas Ordentliches zu essen und die nächsten achtundvierzig Stunden im Bett zu verbringen. Aber das kam für mich natürlich nicht in Frage.
Ich hielt mich in der Verwaltung auf, erledigte ausstehende Schreibarbeit und machte mich dann schweren Herzens daran, die letzten Stunden Lucys zu Papier zu bringen. Minutiös protokollierte ich alles, was während meiner Dienstzeit passiert war, so etwa meinen Arztbesuch auf der allgemeinen Station, Jorges Wutausbruch und die Ankunft der Detectives. Die richterliche Anordnung, die Auslieferung der Akten, meinen Weg in die Küche und den kurzen Besuch in Lucys Zimmer. Ich beschrieb, in welcher Verfassung sie gewesen war und dass sie ihren Katzentanz im Mondlicht aufgeführt hatte, vergaß auch nicht zu erwähnen, Papier in den Kopierer nachgeladen, auf die Fragen der Detectives geantwortet und schließlich, als Greg Alarm geschlagen hatte, mit einem eilig aufgestellten Suchtrupp das ganze Krankenhaus durchkämmt zu haben. Ich ging meinen Text immer wieder durch, ergänzte hier und da und formulierte manches um.
Aber die Nacherzählung machte es mir kein bisschen leichter, das Geschehene zu verkraften. Die dumpfe Benommenheit, die man nach solchen Tragödien meistens erfuhr, wollte sich bei mir einfach nicht einstellen. Wir hatten auf der Station noch nie ein Kind verloren. Es hatte Suizidversuche gegeben, und wir wussten von tragischen Verläufen im Anschluss an unsere stationäre Behandlung; aber dass ein Kind unter unserer Obhut gestorben war – so etwas hatte es noch nie gegeben. Ich war aufgewühlt, und meine Brust fühlte sich an wie zusammengeschnürt. Weinen konnte ich nicht. Das letzte Mal hatte ich geweint, als mir als jungem Mädchen bewusst geworden war, dass Tränen zu viel und gleichzeitig zu wenig waren, um den Verlust einer Familie zu betrauern.
Also arbeitete ich weiter an meinem Bericht. Als ich damit fertig war, holte ich Lucys Filzkugel aus der Tasche und tackerte sie in die obere rechte Ecke des ersten Blattes.
Acht Uhr morgens. Die Kinder waren aufgestanden, die Sonne schien durch die Fenster, und vor den Türen standen die neuen Sicherheitsposten.
Ich ging nach unten in die Cafeteria und wartete dort auf Karen.
Es war schon nach neun, als Karen endlich aufkreuzte. Sie kam vom Eingang der Cafeteria direkt auf mich zu. Die randlose Brille saß auf der Nasenspitze, und das aschfarbene Haar war unordentlich nach hinten gesteckt. Sie sah aus, als hätte man sie gerade aus dem Bett geholt. Trotzdem war sie ganz die Chefin, bewegte sich entsprechend forsch und fixierte mich fest mit ihrem Blick. Sie leitete den Pflegedienst unserer Station nun schon seit über zwölf Jahren, und ich konnte mir keine geeignetere Person auf diesem Posten vorstellen.
Sie rückte sich einen Stuhl zurecht, legte den obligatorischen Stapel Akten, den sie immer bei sich zu haben schien, auf dem Tisch ab und schob mit dem Zeigefinger die Brille über den Nasenrücken zurück. Sie blickte auf den Bagel, den ich noch nicht angerührt hatte. «Soll ich dir noch einen holen?», fragte sie und deutete auf meine leere Tasse.
Ich schüttelte den Kopf. Noch mehr Kaffee konnten weder meine Nerven noch mein Magen vertragen.
Sie ging zum Buffet, belud sich ein Tablett und kam zu mir zurück. Sie hatte eine Banane, einen Muffin und einen dampfenden Becher Tee. Dass sie hier mit mir frühstückte, war eine freundliche Geste. In der Küche unserer Station hätte sie
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