Die Frucht des Bösen
«So, und ich geh jetzt in die Sonne, damit ich wieder trocken werde.»
Evan zögert. Er scheint zu fürchten, sein Vater würde wieder verschwinden, doch als er sieht, dass Michael drei Schritt entfernt am Rand der Veranda stehen bleibt, entspannt er sich und fängt an, mit seinen Feuerwehrautos zu spielen. Ich gehe hinaus und stelle mich neben Michael.
«Er hat sich beruhigt», sagt er leise. «Kommt mit seinen Emotionen anscheinend besser klar, als ich dachte.»
«An manchen Tagen, ja», erwidere ich.
«Und an anderen?»
«Muss ich ihm Ativan verabreichen. Letzte Woche insgesamt fünfmal.»
Michael sieht mich an. Zur Abwechslung wirkt er weder distanziert noch verärgert. Er macht vielmehr einen müden Eindruck und sieht so aus, wie ich mich fühle. Vielleicht projiziere ich auch nur. «Ich bin nicht gekommen, um zu streiten», hebt er an, so natürlich und selbstverständlich, dass ich mich zusammenreiße. «Wie immer du entscheidest, ich werde es akzeptieren, Victoria. Du bist Evans Mutter und weißt am besten, was gut für ihn ist.»
«Was gut für ihn ist?», wiederhole ich begriffsstutzig.
«Na klar. Aber, Victoria …» Er hebt wieder die Hände. «Im Ernst, du mutest dir zu viel zu. Auf einen guten Tag kommen ein halbes Dutzend, die über deine Kraft gehen. Es kommt zwangsläufig immer wieder zur Explosion, und du musst anschließend die Scherben wegräumen. Hast keine Zeit mehr für dich selbst oder deine Tochter. Du fehlst ihr. Eine Sechsjährige braucht ihre Mom öfter als einmal die Woche für ein, zwei Stunden.»
«Ich dachte, du wolltest nicht streiten.»
Michael lässt seufzend die Hände fallen. «Ich suche nach einer Lösung. Chelsea zuliebe. Evan zuliebe. In unser aller Interesse.»
«Irgendwelche Vorschläge?»
«Chelseas Therapeutin meint –»
«Chelsea macht eine Therapie?»
Michael scheint verunsichert. «Natürlich. Das ist Teil der Scheidungsvereinbarungen.»
«Ich wusste nicht … Ich dachte, du hieltest nichts von Therapien.»
«Mein Gott, Victoria, für wie verstockt hältst du mich?» Seine Stimme wird härter. Evan blickt aus seinem Planschbecken angespannt zu uns auf und scheint sich auf einen Angriff vorzubereiten. Für wen würde er Partei ergreifen? Für seinen Vater natürlich, kein Zweifel.
Michael winkt mit der Hand ab. «Keine Sorge, Kumpel. Ich erzähle Mom bloß eine Geschichte von der Arbeit. Was meinst du, vielleicht könnte das Feuerwehrauto auf der Veranda ja dem Löschzug zu Hilfe kommen?»
Gehorsam steigt Evan aus dem Becken und holt sich den kleineren Leiterwagen. Michael nimmt das Gespräch mit mir wieder auf.
«Dr. Curtin, die Therapeutin, schlägt vor, dass ich Evan mit ihr bekannt mache. Wenn er Vertrauen zu ihr fasst, soll auch Chelsea dazukommen. Die beiden könnten einander besuchen, auf neutralem Boden, wo sich beide sicher fühlen.»
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. «Wann? Wie oft?»
Michael zuckt mit den Achseln. «Es müsste an den Wochenenden sein, denn für Chelsea geht ja die Schule los. Ich dachte an zweimal im Monat, samstags oder sonntags alle vierzehn Tage. Eine Stunde oder so, je nachdem, wie es läuft.»
«Und wenn es nicht gut läuft? Wenn Evan einen Anfall bekommt?»
Wieder zuckt Michael mit den Achseln, hilflos und unschlüssig, wie es scheint.
«Ich glaube nicht», entgegne ich, «dass es den beiden guttäte, wenn wir sie zusammenbringen würden, nur um sie anschließend wieder auseinanderzureißen.»
«Da stimme ich dir vollkommen zu, aber wir hätten in Dr. Curtin eine professionelle Begleitung, die intervenieren könnte. Nun, wir können’s versuchen oder bleibenlassen. Wir haben die Wahl.»
Ich muss darüber nachdenken. Er hat natürlich recht. Für ein Kind wie Evan kann man keine Garantien geben. Wir können nur hoffen, aber manchmal weiß ich selbst nicht mehr, worauf eigentlich.
Michael mustert seine Schuhspitzen. «Ich wäre bei diesem Treffen auch dabei.»
«Am liebsten sieht er sich das Programm des History Channel an», höre ich mich sagen. «Er weiß fast alles, was man über die alten Römer wissen kann. Geschichtszahlen, berühmte Feldherren, sämtliche großen Schlachten – all das sagt er dir wie am Schnürchen auf. Evan ist gescheit. Er ist unglaublich gescheit. Und unglaublich einsam.»
«Ich weiß.»
«Wie … wie war es dir überhaupt möglich, uns im Stich zu lassen?»
«Auch Chelsea braucht Hilfe. Sie ist verstört, traumatisiert und hat schreckliche Angst davor, eines Morgens
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