Die Frucht des Bösen
gekommen. Sein plötzliches Auftauchen wird Evan irritieren, und mit unserem glücklichen Vormittag wäre es vorbei. Ich habe die vergangenen zwei, drei Stunden genossen und will nicht, dass es damit schon zu Ende ist.
Zu spät. Ich höre Schritte hinter mir. Evan ist neugierig geworden und kommt in den Flur. Offenbar hat er seinen Vater schon erkannt, denn seine Schritte brechen ab. Ich drehe mich um, gefasst darauf, dass mir der Junge wieder aus dem Ruder läuft.
«Daddy? Daddy.
Daddy!
»
Evan fliegt herbei und wirft sich ihm in die Arme, so ungestüm, dass er Michael fast umrennt. Dann greift er nach seinen Händen und dreht ihn im Kreis herum, zerrt und zappelt und ruft in einem fort: «DaddyDaddyDaddyDaddyDaddyDaddy …»
Michael wirft mir einen verunsicherten Blick zu. Ich zucke mit den Achseln. Einen Jungen wie Evan sollte man nicht überraschen. Michael lässt ihn gewähren. Sein Sohn tanzt kreischend und auf Zehenspitzen um ihn herum, zupft an seinem Hemd, stupst ihn an und reagiert sich ab. Als er endlich halbwegs zur Ruhe kommt, tätschelt Michael seine Schulter und sagt: «Hey, du bist groß geworden.»
«Und wie. Ich bin RIESIG .»
«Und kräftig.»
« GUCK MAL, MEINE MUSKELN », brüllt Evan und wirft sich in Bodybuilder-Pose.
«Evan», sage ich möglichst unaufgeregt. «Das Planschbecken ist voll. Möchtest du deinem Vater unseren neuen Pool zeigen?»
Die Idee gefällt ihm. Auf Zehenspitzen – ein sicheres Zeichen für seine Erregung – trippelt er los, durchs Wohnzimmer und auf die Schiebetüren zu. In seinem Übereifer vergisst er, die Türen aufzuschieben, prallt mit voller Wucht gegen die Glasscheibe und geht zu Boden. Sofort fängt seine Nase zu bluten an. Er schlägt die rechte Hand vors Gesicht, steht auf und versucht ein zweites Mal, durch die geschlossene Glastür zu springen. Diesmal bleibt er benommen am Boden liegen.
«Um Himmels willen», stöhnt Michael. Immerhin nimmt er nicht gleich Reißaus, sondern stellt sich der Situation.
Wir fallen in alte Muster zurück, Rituale, die so fest eingefahren sind, dass sie ganz natürlich ablaufen. Ich, die Mutter, gehe vor Evan in die Hocke, sage ihm tröstende Worte und untersuche den Schaden. Michael, der Macher, holt Eis aus der Küche und kühlt seinem Sohn damit die Nase. Wie in einem Déjà-vu finde ich mich in die Zeit zurückversetzt, als wir uns noch gemeinsam um unsere Kinder gekümmert und unsere kleinen Kriege geführt haben. Er hat sich inzwischen daraus zurückgezogen. Wer wollte es ihm verdenken?
Evan weint nicht. Der unerwartete Besuch seines Vaters hat ihn so aufgewühlt, dass er gar nicht weiß, wie ihm geschieht. Seine Emotionen kreisen um einen fernen Stern, und im Weltall gibt es keine Tränen. Nur schwarze Löcher.
Wir müssen dafür sorgen, dass er in sein Planschbecken kommt, wo er sich austoben kann. Vielleicht lässt er sich aus seinem Orbit herunterholen, ohne dass er sich und uns wehtut.
«Alles okay, Schatz?»
«Ja», antwortet er mit belegter Stimme. Wahrscheinlich schmeckt er Blut im Mund. Ich öffne die Tür, und tatsächlich tritt er auf die Veranda hinaus. Doch plötzlich bleibt er stehen, dreht sich um und spuckt blutigen Rotz aus.
Es stört mich nicht weiter. Ich habe schon Schlimmeres gesehen.
Michael führt ihn zum Planschbecken. Evan steigt ins Wasser. Michael holt das mit Eiswürfeln gefüllte Handtuch, betupft seine Nase damit und wischt ihm den Schmier aus dem Gesicht. Die Nase wird dem Jungen zu einem Riesenzinken anschwellen. Aber auch da habe ich schon Schlimmeres gesehen.
«Super-Soaker!», kreischt er, schnappt sich eine der beiden Wasserpistolen und richtet sie auf seinen Vater. Ich rechne damit, dass Michael protestiert und in Deckung geht, um sein frischgebügeltes Hemd zu schützen. Stattdessen aber greift er zu der anderen Wasserpistole. Ich ziehe mich ins Haus zurück und schaue aus sicherer Entfernung zu, wie sich die beiden während der nächsten zehn Minuten bespritzen.
Vielleicht hat die Wasserschlacht zwischen Vater und Sohn therapeutische Wirkung. Vielleicht ist es genau das, was die beiden brauchen. Evan kommt von seinen Zehenspitzen herunter und setzt den vollen Fuß auf. Aus seinem schrillen Gekreische wird allmählich das fröhliche Lachen eines kleinen Jungen. Alles scheint sich zum Guten zu wenden. Vielleicht habe ich heute einmal Glück.
Michael ist bis auf die Haut durchnässt. Lachend gibt er sich geschlagen. «Du bist wirklich stark geworden», sagt er.
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