Die Frucht des Bösen
aufzuwachen und ebenso gewalttätig und wütend zu sein wie ihr Bruder. Für ein kleines Mädchen ist das zu viel, Victoria. Solange sie hier wohnte, war sie überfordert. Es drehte sie ja doch alles nur um Evan. Chelsea braucht genauso viel Aufmerksamkeit.»
Er spricht ganz nüchtern und sachlich. Umso schwerer fällt es mir, seinen Worten zu folgen.
«Und wie steht Melinda zu alldem?», frage ich.
Er wird steif, als ich ihren Namen erwähne, weicht aber nicht vom Fleck. «Meine Kinder sind ihre Kinder. Das hat sie begriffen.»
«Du willst also noch mal von vorn anfangen. Eine zweite Familie gründen. Ist sie jung? Möchte sie Kinder haben? Hast du Angst davor?»
Er schaut mir ruhig in die Augen. «Ja, sie will Kinder haben. Und ja, ich habe Angst davor.»
«Das ist nicht fair», flüstere ich.
«Nein, Victoria, das ist es wirklich nicht.» Er zögert. Ich glaube schon, er würde noch etwas sagen, vielleicht dabei meine Wange berühren. Aber der Moment verstreicht.
Ich kann ihn nicht mehr ansehen, starre auf die Bodendielen und verbiete mir, in Tränen auszubrechen. Es geht schließlich nicht um mich, sondern um Evan. Darum, dass er seine Schwester wiedersieht. Und auch seinen Vater. Evan und seine Schwester haben Anspruch darauf, Teil einer Familie zu sein.
«Ich bringe ihn zu dieser Therapeutin und werde auch selbst mit ihr sprechen», sage ich. «Wenn das dazu führt, dass Evan und Chelsea einander wieder treffen können, bin ich gern dazu bereit.»
«Danke dir.»
«Ich danke dir», erwidere ich in Evans Namen. Mehr kommt mir nicht über die Lippen, denn mir steckt ein Kloß im Hals. Außerdem will ich nichts Dummes sagen wie zum Beispiel:
Auch ich fühle mich einsam.
Oder schlimmer noch:
Ich liebe dich noch immer.
Michael geht auf Evan zu und verabschiedet sich von ihm, was bei unserem Jungen gar nicht gut ankommt. Michael handelt einen Kompromiss mit ihm aus. Sie einigen sich darauf, die Wasserschlacht für einen Moment fortzusetzen, und wenn Michael dann gegangen ist, darf sich Evan vor die Glotze setzen und eine Sendung im History Channel ansehen.
Die beiden greifen wieder zu den Wasserpistolen. Ich gehe nach oben ins Badezimmer, spritze mir Wasser ins Gesicht und sehe meine zerstrubbelten Haare, die Bluse voller Blut und Grasflecken auf den Knien. Egal. Michael und Melinda, Melinda und Michael, zwei Turteltauben im hohen Baum. Und wie sie sich schnäbeln!
Unten betreten Michael und Evan das Wohnzimmer, beide mit hochroten Wangen und patschnass.
«Was meinst du?», fragt Michael seinen Sohn. «Darf ich dich noch mal besuchen?»
Evan betrachtet ihn nachdenklich. «Du hast uns verlassen.»
«Ich war nur länger weg als geplant», entgegnet Michael.
«Verlassen.»
«Aber jetzt bin ich hier.»
«Verlassen.»
Michael lenkt ein. «Okay, Kumpel, ich bin gegangen, und das tut mir jeden Tag aufs Neue leid. Du fehlst mir so. Deshalb bin ich hier –»
«Verlaaaassen», singt Evan.
«Wieder hier», korrigiert Michael. «Ich wohne hier nicht mehr, Evan. Ich kann nicht bleiben, aber immer wiederkommen.» Er schaut mich hilfesuchend an.
«Er kann uns jederzeit besuchen, Evan», bestätige ich.
Evan scheint uns nicht zu glauben, ist aber sichtlich müde geworden. Er will sich jetzt vom Fernseher einlullen lassen. Also schalte ich den Apparat ein und eskortiere meinen Exmann zur Haustür.
Er gibt mir einen leichten Kuss auf die Wange und geht, ohne ein Wort zu sagen.
Ich stehe noch lange in der Tür, die Hand an die Wange gelegt, als würde ich ihn dort festhalten können.
Ich dachte immer, wenn es so weit ist, passiert es mitten in der Nacht. Evan würde komplett durchdrehen und ich durch den Flur oder die Treppe hochrennen, womöglich stürzen, jedenfalls nicht schnell genug davonkommen. Mit Schaum vorm Mund wäre mein Sohn plötzlich über mir. Aber es kommt ganz anders.
Ich sitze neben Evan auf dem Sofa. Den Mund halb geöffnet, stiert er auf den Fernseher. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass er im TV -Koma liegt. Ich kann mich entspannen. Auch ich bin müde. Vielleicht spendiere ich ihm später ein Eis. Vielleicht können wir es noch einmal wagen, nach draußen zu gehen.
Plötzlich spüre ich ein Piksen, einen Schmerz in der Seite. Ich greife mit der Hand an die Stelle, um mich zu jucken, und stoße auf ein Messer, das zwischen meinen Rippen steckt. Mein Sohn hält den Griff umklammert. Und mein Sohn, mein wunderschöner Sohn, schaut mich an.
«Auch du, mein Sohn …», feixt
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