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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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das Gleiche umsonst bekommen. Aber in einer Cafeteria einander gegenüberzusitzen war etwas anderes. Man brach gewissermaßen gemeinsam das Brot.
    Karen schälte ihre Banane. Ich zwang mich zu einem Bissen von meinem Bagel. Und weil ich es nicht länger aushalten konnte, ergriff ich das Wort.
    «Du weißt, dass ich keinem unserer Kinder jemals etwas zuleide tun könnte», platzte es aus mir heraus. «Ich habe Lucy nichts getan, das weißt du.»
    «Wie kann ich das wissen?», entgegnete Karen, und ich spürte, wie sich mein Magen zusammenkrampfte. Sie fuhr fort: «Aber natürlich glaube ich dir. Wenn man mich fragt, werde ich sagen, dass du einem Kind niemals vorsätzlich Schaden zufügen würdest.»
    Ich nickte dankbar. «Was passiert ist, kann ich mir nicht erklären», flüsterte ich.
    «Ich auch nicht. Die Polizei wird es hoffentlich herausfinden.»
    «Wer wird sich jetzt um sie kümmern?» Ich meinte Lucys Leiche.
    «Keine Ahnung», antwortete Karen. «Gegen ihre Pflegeeltern läuft ein Verfahren wegen Kindesmisshandlung. Die werden wohl kaum für die Beisetzung sorgen. Wie wird in solchen Fällen verfahren? Übernimmt das der Staat? Die Situation ist neu für mich.»
    «Vielleicht sollten wir ihre Bestattung ausrichten», sagte ich spontan. «Unsere Kinder haben dann die Gelegenheit, sich von ihr zu verabschieden.»
    «Danielle, Lucy war nur wenige Tage bei uns. Und die anderen Kinder hatten nichts mit ihr zu tun. Sie wissen noch gar nicht, dass sie tot ist.»
    «Was willst du ihnen sagen?»
    «Wenig. Wie gesagt, sie haben kaum Kontakt miteinander gehabt. Wenn Fragen gestellt werden, werde ich natürlich darauf antworten. Aber ich wette, es wird kaum Fragen geben.»
    Ihre Worte deprimierten mich noch mehr. Ich ließ die Schultern hängen. «Es ist schrecklich», murmelte ich. «Sie war ein Kind, ein neunjähriges Mädchen, und nun ist sie tot, und niemand vermisst sie. Was für eine Schande!»
    «Ich vermisse sie», entgegnete Karen. «Und auch du vermisst sie.»
    Meine Augen brannten. Ich starrte auf den blauen Linoleumboden.
    «Geh nach Hause», sagte Karen. «Ruh dich aus oder weine oder meditiere. Tu, was immer dir hilft, dich ein wenig zu entspannen. Du bist eine außergewöhnlich gute Krankenschwester, Danielle. Und ein guter Mensch. Du kommst darüber hinweg.»
    «Ich will arbeiten.»
    «Ausgeschlossen.»
    «Ich brauche die Kinder. Indem ich mich um sie kümmere, kümmere ich mich um mich selbst.»
    «Ausgeschlossen.»
    «Auch wenn ich bloß Aufsicht führe. Außerdem könnte ich Schreibkram nachholen. Ich werde niemandem in die Quere kommen. Versprochen.»
    «Danielle, gleich wird die Polizei wieder da sein. Es wäre besser, du gehst jetzt nach Hause und nimmst Kontakt zu einem guten Anwalt auf.»
    «Aber ich habe doch –»
    Karen hob eine Hand. «Du solltest jetzt nur an dich denken, Danielle. Wir, die Kinder und das ganze Team, stehen hinter dir.»
    Ich wollte nicht hören, was sie sagte, wischte mir über die Augen und starrte noch fester auf den Boden.
    «Es wird zwei Personalsitzungen geben», fuhr Karen fort. «Eine um zwei für die Tagesschicht, die andere um elf heute Abend für die Nachtschicht. Wenn du dabei sein möchtest, bist du herzlich willkommen. Wir müssen uns darüber verständigen, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, damit es nie wieder zu einem solchen Vorfall kommt. Außerdem werde ich dafür sorgen, dass mit allen Kollegen, die es wünschen, therapeutische Gespräche geführt werden. Auch du solltest von dieser Möglichkeit Gebrauch machen.»
    Ich nickte. Sie warf mir einen Knochen hin. Ich nahm ihn an.
    Die Tür ging auf, und Greg kam herein. Er ging auf mich zu, zögerte aber, als er Karen erkannte. Doch auch sie hatte ihn schon bemerkt. Es schien fast, als habe sie auf ihn gewartet.
    Sie griff nach ihren Akten.
    «Pass gut auf dich auf», sagte sie und ging an Greg vorbei zur Tür. Er kam auf mich zu, machte aber keine Anstalten, sich zu mir zu setzen. Er blieb vor mir stehen.
    «Komm, nach Hause», sagte er.
    «Ich kann nicht einmal den Gedanken daran ertragen», entgegnete ich.
    «Nicht zu dir nach Hause, Danielle. Zu mir.»
    Ich folgte ihm.
     
    Greg teilte sich mit zwei gleichaltrigen Männern eine Vierzimmerwohnung in einem großen, nachträglich parzellierten Einfamilienhaus mit Bodendielen, drei Meter hohen Decken und hübschen Erkerfenstern. Es sah vernachlässigt aus, wie eine in die Jahre gekommene Matrone, die zwar noch kräftige Knochen hatte, aber welke Haut. Ich

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