Die Frucht des Bösen
ein Kind auf dieser Station hatten, sind einem Verbrechen zum Opfer gefallen, und das ziemlich genau fünfundzwanzig Jahre nach der Tragödie in Ihrer Familie. Vergangene Nacht musste ein Mädchen, das Sie betreut haben, vom Strick geschnitten werden. Wollen Sie immer noch behaupten, dass Sie mit alldem nichts zu tun haben?»
Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. «Aber … Ich habe keine Familie mehr. Wer könnte es auf mich abgesehen haben?»
«Gute Frage», sinnierte die Sergeantin. «Wer könnte es auf Sie abgesehen haben?»
Ich wusste keine Antwort darauf, war mir aber sicher, dass es bei alldem nicht um mich gehen konnte.
Ich hatte damals die Pistole gar nicht mehr in der Hand,
wollte ich ausrufen.
Ich schwör’s, ich hatte sie nicht mehr.
«Ich muss jetzt einen Bericht durcharbeiten», murmelte ich und ging davon, weil ich es einfach nicht mehr aushalten konnte, dieser Polizistin gegenüberzustehen. Ich wollte mir den Schrecken nicht anmerken lassen, der über mich hereinbrach. Ich wollte nicht, dass sie mein Bedauern falsch interpretierte.
Eine Viertelstunde später fing die Mitarbeiterbesprechung an. Es war fast schon halb zwölf. Die lange Verzögerung konnte nach den Vorfällen nicht verwundern. Auf der Station herrschte immer noch Hochspannung. Ich konnte mich nicht erinnern, dass jemals zuvor so viele Kinder gleichzeitig ausgetickt waren. Und wir, die Kollegen, waren genauso zappelig wie sie.
Ich blieb in der Verwaltung zurück und warf immer wieder einen Blick durch das Fenster in den Aufenthaltsbereich. Die Polizei war endlich verschwunden. Ich hätte mich zu den MC s an den großen Tisch setzen können, fühlte mich aber zu befangen nach dem Gespräch mit der Sergeantin, die mir eine Mitschuld an Lucys Tod zu unterstellen schien.
Aber dann wurde mir bewusst, dass ich eigentlich auf Greg wartete. Ich wartete auf seine seelische Unterstützung.
Als er nach weiteren fünf Minuten immer noch nicht auftauchte, machte ich mich auf die Suche nach ihm.
Ich bin durch den Flur, vorbei an den Schlafzimmern unserer Kinder, von denen manche hell erleuchtet waren. Aus dem letzten Raum auf der rechten Seite hörte ich schließlich seinen unverkennbaren Bariton.
Ich steckte meinen Kopf zur Tür herein. Greg saß auf dem Boden, die langen Beine ausgestreckt, und kümmerte sich um einen kleinen Jungen, der zu einem Knäuel zusammengerollt vor ihm lag. Er streichelte seine hellblonden Haare, redete behutsam auf ihn ein und ermutigte ihn, sich zu entspannen. Der Junge reagierte nicht.
Es war der neue Patient, der am Morgen seine Mutter mit einem Messer attackiert hatte. Er schien in sich verkapselt zu sein und nicht wahrhaben zu wollen, dass er an diesem fremden Ort war und von fremden Leuten bedrängt wurde.
«Mommy», flüsterte er. «Ich will zu meiner Mommy.»
«Ich weiß», erwiderte Greg.
«Bring mich zu ihr.»
«Das geht jetzt nicht.»
«Du könntest doch dabeibleiben. So wie schon mal.»
Ich merkte auf.
So wie schon mal?
Vorsichtig schlich ich in Deckung.
«Du bleibst ein Weilchen hier. Bei uns lernst du, dich zu beruhigen und unter Kontrolle zu halten. Dann geht es dir wieder besser. Keine Sorge. Du wirst dich hier wohlfühlen. Wir passen gut auf dich auf.»
«Mommy …»
Greg schwieg.
«Ich hab ihr wehgetan», murmelte der Junge. «Mit diesem Messer. Ich hatte es in der Hand und konnte nicht anders. Ich konnte nicht anders.»
Greg blieb still.
«Ich bin ein böser, böser Junge», jammerte der Kleine weiter, so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. «Niemand liebt einen so bösen Jungen wie mich.»
«Du hast Hilfe gerufen», sagte Greg. «Das war schlau von dir, Evan. Wirklich schlau und das einzig Richtige.»
«Blut ist klebrig. Und ist warm. Ich wusste nicht, dass sie so blutet. Ich glaube, ich habe das Sofa versaut.» Plötzlich fing der Junge zu weinen an. «Greg, ob Mommy mich jetzt hasst? Ruf sie an, du musst sie anrufen. Sag ihr, dass es mir leidtut. Es war ein Unfall. Ich wollte nicht, dass sie so blutet.
Ich wusste das nicht!
»
Die Erregung des Jungen spitzte sich zu, seine Stimme hatte eine bedrohliche Färbung angenommen. Ich betrat das Zimmer, als Greg gerade sagte: «Evan, ich möchte, dass du jetzt tief Luft holst.»
«Ich habe das Sofa versaut.»
«Evan –»
«Ich will nach Hause gehen, Hause gehen, Hause gehen. Will diesmal auch ein braver Junge sein. Versprochen, ein braver Junge. Keine Messer mehr. Aber lasst mich nach Hause Hause Hause
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