Die Frucht des Bösen
nach hinten gestrichen. Das Gesicht war der Sonne zugewandt. Ihre Lippen zeigten einen kleinen Schwung, der mir fast das Herz brach.
Als ich das nächste Mal bei ihr vorbeischaute, war sie verschwunden. Die Sonne schien auf die leere Wasserschale und den Schwamm. Von Lucy keine Spur. Sie war ausgeflogen.
Anfangs machte ich mir keine Sorgen. Wir waren eine geschlossene Station. Irgendwo würde sie schon sein. Ich musste sie nur finden.
Ich ging zu dem Kollegen, der für die «Checks» zuständig war und alle fünf Minuten zu kontrollieren hatte, wo sich welches Kind gerade aufhielt. Es war Greg. Er patrouillierte seit einer Stunde in der Station auf und ab, hatte Lucy aber nicht gesehen. Und er hatte auch nicht auf sie geachtet, denn Lucy war von der Fünf-Minuten-Regel ausgenommen, weil sie unter besonderer Aufsicht stand, nämlich unter meiner. Ich musste alle zwanzig Minuten nach ihr sehen. Greg schlug Alarm, und wir alle machten uns auf die Suche.
Auch die Kinder. Für sie war es wie ein groß angelegtes Versteckspiel, jedenfalls ein Mordsspaß, und diejenigen, die schon länger bei uns waren, kannten sich in solchen Dingen aus und halfen gern. Da wir auf unserer Station keine Videokameras haben, suchten wir in den verspiegelten Halbkugeln nach Lucy, doch wir fanden sie weder auf dem Flur noch in den Zimmern oder im Aufenthaltsraum. Langsam wurden wir nervös.
Wir schauten in allen Schränken, Badezimmern und Toiletten nach. Die Küche war verschlossen. Wir warfen trotzdem einen Blick hinein wie auch in jede kleine Abstellkammer.
Gegen Viertel nach drei – Lucy war immer noch nicht gefunden – geriet das Personal allmählich in Panik, ganz zu schweigen von manchen Kindern.
Greg kümmerte sich um sie. Es war Zeit für den kleinen Nachmittagssnack. Die Kollegen mussten sich wieder um ihre jeweiligen Aufgaben kümmern. Karen, unsere Stationsleiterin, nahm mich beiseite.
«Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?»
«Um Viertel nach zwei», antwortete ich.
«Was hat sie da gemacht?»
«Sie saß in der Sonne und betrachtete den Schatten ihrer Hand.»
«Und wann hast du ihr Verschwinden bemerkt?»
Ich zögerte. «Um Viertel vor drei.»
Karen schaute mich an. «Das sind dreißig Minuten, Danielle, keine zwanzig. Wir haben uns darauf verständigt, dass einer von uns alle zwanzig Minuten nach ihr sieht.»
Mir fiel keine Ausrede ein. Ich nickte nur.
Karen musterte mich eindringlich. Sie arbeitete schon seit Jahrzehnten mit schwierigen Kindern, und ihr Blick ging tief. Ich konnte mir sicher sein, dass sie eine Verbindung herstellte zu einem bestimmten Datum meiner Biographie, das sich in Kürze jährte.
Auch das gehört zum Schicksal des einzig Überlebenden: Er entrinnt dem entscheidenden Jahrestag nie.
«Ist dir Lucy zu anstrengend?», fragte Karen plötzlich.
«Nein.»
«Wir arbeiten gern mit dir, Danielle», sagte sie kurz angebunden. «Aber du solltest auch mit uns gern zusammenarbeiten. Verstehst du?»
«Lucy ist nicht zu anstrengend für mich», erklärte ich mit fester Stimme.
Karen seufzte und machte Anstalten zu gehen. «Ist Lucy noch nackt?»
«Als ich sie das letzte Mal sah, ja.»
«Dann kann sie nicht weit sein.»
Karen alarmierte den Sicherheitsdienst, worauf sämtliche Ausgänge des Krankenhauses automatisch verriegelt wurden. Ich kam mir klitzeklein vor. Ich hatte das mir anvertraute Kind verloren und in unentschuldbarer Weise gegen eine Regel verstoßen. Und das bedrückte mich umso mehr, als ich meinen Job sehr ernst nahm. Zumal von einem Privatleben bei mir kaum die Rede sein konnte. Mein ganzer Ehrgeiz zielte darauf ab, eine gute Kinderkrankenschwester zu sein.
Heute war einer dieser Tage, an denen offenbar alles schiefging. Das Personal versammelte sich zu einer Dringlichkeitssitzung. Karen organisierte die Suche im ganzen Haus, an der sich auch der Sicherheitsdienst beteiligte.
Ich hatte die erste und zweite Etage zu durchsuchen. Mir war schlecht vor Aufregung.
Wo konnte Lucy sein? Was mochte sie vorgehabt haben?
Plötzlich hatte ich eine Idee.
Ich rannte zur Sonnenterrasse.
Zehn Minuten später hatte ich Lucy gefunden. Sie lag, von der Sonne beschienen und den Kopf auf die Hände gelegt, hinter einer eingetopften Palme, eingerollt wie ein Kätzchen. Auf ihren Schleichwegen durchs Haus hatte sie offenbar einen grünen OP -Kittel mitgehen lassen. Den trug sie jetzt, sodass sie sich vom grüngrauen Boden kaum abhob. Ihre dunklen Haare verdeckten das
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