Die Frucht des Bösen
frischgewaschene Gesicht.
Ich meldete über Funk, Lucy gefunden zu haben.
Sie hatte sich ein schönes Plätzchen ausgesucht. Ich setzte mich neben sie und wartete.
Greg kam wenig später und nahm neben mir Platz. «Dumm gelaufen», sagte er.
«Ihr geht’s gut, und darauf kommt’s an.»
«Erstaunlich, dass sie entwischen konnte. Muss wohl rausgeschlüpft sein, als ein Besucher gekommen oder gegangen ist.»
Er sagte das beiläufig, aber wir beide wussten um die Brisanz dieses Vorfalls. Dass Lucy zwei Türen, die normalerweise verschlossen waren, passieren konnte, war mehr als erstaunlich und bisher nie vorgekommen. Mir war schleierhaft, wie ein neunjähriges nacktes Mädchen unbemerkt hatte entkommen können.
Die Sache würde Konsequenzen haben, insbesondere für mich.
Ich hatte Angst um meinen Job, den ich liebte, gerade jetzt zu dieser Zeit, in der ich psychisch nicht auf der Höhe war. Da hatte Karen ganz recht.
Greg berührte meine Wange. Ich zuckte ausnahmsweise nicht zurück. Wir arbeiteten schon seit Jahren zusammen. Er war ein gutaussehender Typ, groß gewachsen und kräftig, ein richtiges Klettergerüst für die kleineren Jungs, die es liebten, sich auf ihm auszutoben. Er war immer angezogen wie ein Footballtrainer und hatte die tiefste, markigste Stimme auf der ganzen Station. Selbst die schwierigsten Kinder wurden still, wenn sie ihn hörten.
Vor zwei Jahren hatte er mich zum ersten Mal gefragt, ob ich mit ihm ausgehen wolle. Seitdem fragte er immer wieder – vergeblich. Mir war unerklärlich, wie jemand so viele Körbe wegstecken konnte, ohne sich entmutigen zu lassen. Vielleicht lernt man das in diesem Job.
Ich ertappte mich nun dabei, wie ich an Sheriff Wayne dachte, schaffte es aber immerhin, nicht in Tränen auszubrechen. Das hätte wohl ziemlich dumm ausgesehen.
Lucy rührte sich endlich. Sie hob den Kopf, blinzelte und betrachtete uns wie eine Eule.
Schnell, bevor sie so wach sein würde, dass sie sich wehrte, nahmen wir sie zwischen uns und bugsierten sie zu den Fahrstühlen.
Mir gingen tausend Dinge gleichzeitig durch den Kopf. Dass es in drei Tagen so weit wäre. Ein Tag im Kalender, ein Tag, der einmal im Jahr kam und ging. Und ich wusste, dass mich Karen durchschaute und sich erklären konnte, warum ich so viele Überstunden machte. An diesem Datum kam ich einfach nicht vorbei. In rund vierundzwanzig Stunden würde ich verschwinden. Ich wäre dann außerstande, meine Arbeit zu tun. Ich würde zu nichts mehr in der Lage sein.
Ganz zu schweigen von einer Verabredung mit einem so netten Kerl wie Greg, dem es ernst damit war, mir aus meiner Misere herauszuhelfen.
Einmal im Jahr wollte ich mir nicht helfen lassen.
Einmal im Jahr wollte ich mich meiner Wut hingeben.
Weil ich der einzige Überlebende bin und immer noch nicht damit zurechtkomme.
Der Fahrstuhl brachte uns zurück in den achten Stock. Ich zückte meinen Ausweis, um in die Station zu gelangen. Karen erwartete mich – zusammen mit einer Frau mit blonden Locken und einem grau melierten Mann in schwarzem Anzug. Beide trugen Polizeimarken.
«Danielle», hob Karen an.
Und ich wusste sofort, dass nun alles wieder von vorn losgehen würde.
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10 . Kapitel
Victoria
Wie fühlt es sich für einen Vater an, sein Kind zu verlassen? Wacht er morgens auf mit der Erinnerung an das erste Lächeln seines Sohnes? Oder daran, wie er als Säugling in seine Armbeuge gepasst und aus ernsten blauen Augen zu ihm aufgeblickt hatte?
Erinnert er sich an den Moment, als sein Sohn zum ersten Mal «Daddy» sagte? Wie Evan zur Tür gelaufen kam und die Arme um die Beine schlang?
Quält er sich mit dem Was-wäre-wenn oder Hätte-sein-können? Mit dem Traum, eines Tages die Fußballmannschaft seines Sohnes zu trainieren? Oder mit ihm ein Spiel der Patriots zu besuchen oder die Celtics im Garden anzufeuern? Leidet er darunter, dass er seinen Sohn nicht zur Fahrschule schicken, nicht von Mann zu Mann mit ihm reden und ihn nicht bei der ersten Rasur beobachten kann?
Ahnt er, wie sehr Evan in den ersten Tagen und Wochen geweint hat, weil sein Vater nicht mehr nach Hause kam?
Als wir, Michael und ich, Evan von der Klinik nach Hause zurückgeholt hatten, waren wir überzeugt, das Schlimmste überstanden zu haben. Nach drei Monaten konnte er selbständig sitzen, nach zehn Monaten krabbelte er. Der Kinderarzt war beeindruckt.
Evan weinte, manchmal stundenlang. Er tat sich abends schwer mit dem Einschlafen, und an kleine
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