Die Frucht des Bösen
weiter.
Um mehr über Lucy zu erfahren, trug ich einen großen Eimer voller Wasser in ihr Zimmer. Als ich eintrat, vermied ich Blickkontakt und tat so, als würde ich sie nicht zur Kenntnis nehmen. Ich stellte den Eimer ab und kehrte ihr den Rücken zu.
Ich zählte bis zehn.
Als sie mich nicht attackierte, ging ich zu Phase zwei über. Ich holte einen kleinen Schwamm aus meiner Tasche, tauchte ihn ins Wasser und fing an, eine der Wände abzuwischen. Ich hatte immer noch keinen Blick auf sie geworfen. Wenn Aufmerksamkeit sie in Unruhe versetzt, besteht mein Job darin, ihr keine zu schenken.
Nach einer Minute fing ich zu summen an, leise und melodisch. Manche Kinder reagieren darauf positiv. Ich war neugierig auf Lucys Reaktion.
Doch da kam nichts. Also hörte zu summen auf. Ich wischte Kot und Blut von allen vier Wänden, nahm dann den Eimer und verließ ihr Zimmer.
Jetzt galt es abzuwarten: Würde Lucy ihr Zimmer so lassen, wie es nun war, oder das Bedürfnis verspüren, ihre Umgebung zu misshandeln, wie sie sich selbst misshandelte?
Als zwanzig Minuten ohne besondere Vorkommnisse verstrichen waren, brachte ich ihr das Mittagessen: kleingeschnittenes Gemüse, ein Stück Käse, Brot und eine Tasse Wasser. Ich stand im Flur und beobachtete sie über den Spiegel, ohne selbst gesehen zu werden.
Lucy nahm zuerst das Brot, zerdrückte es zwischen den Händen zu einer Kugel, die sie dann auf den Boden legte und dabei zuschaute, wie sie langsam auseinanderging. Daraufhin brachte sie die Kugel wieder in Form und drückte sie so fest, dass sie sich über den Boden rollen ließ.
Sie spielte noch einer Weile wie eine Katze mit ihrer Beute, und ich fragte mich, was es wohl damit auf sich hatte. Fühlte sie sich in ihrem katzenhaften Alter Ego sicherer?
Schließlich nahm sie die Brotkugel vom Boden auf und aß sie, leckte ihre Hände ab und trank einen Schluck Wasser aus der Tasse. Mit dem Käsestück machte sie dasselbe wie mit dem Brot. Das Gemüse versteckte sie unter ihrer Matratze. Was mich nicht weiter überraschte. Viele Kinder horten Lebensmittel, entweder aus irgendeinem Zwang heraus oder aus langer Erfahrung von Not und Hunger.
Eine halbe Stunde später ging ich wieder zu ihr ins Zimmer, um den Teller und die Tasse abzuholen. Auch diesmal schaute ich sie nicht an. Nichts geschah. Wir machten also Fortschritte.
Zurück in der Küche, füllte ich eine kleinere Schale mit warmem Wasser und steckte einen sauberen Schwamm ein. Ich ging zu Lucy und setzte mich diesmal neben sie. Sie saß am Fenster, starrte auf das große helle Rechteck der einfallenden Sonnenstrahlen am Boden und musterte das Schattenspiel ihrer zu einem Fächer gespreizten Finger. Plötzlich wandte sie sich dem Fenster zu, schloss die Augen und ließ sich von der Sonne bescheinen.
Ihrem Gesichtsausdruck nach schien sie in diesem Moment nahezu glücklich zu sein.
Ich ließ mir Zeit. Als sie schließlich genug hatte von Licht und Schatten, tauchte ich den Schwamm in die Schale und hielt ihn über meinen bloßen Unterarm. Ich drückte ein paar Tropfen darüber aus und hoffte, dass sie an diesem neuen Spiel Gefallen finden würde.
So spielte ich eine Weile weiter, ließ das Wasser mal hier-, mal dorthin tropfen. Es bildete dunkle Muster auf meinen Kleidern und am Boden. Wenn man mit Kindern arbeitet, ist es immer hilfreich, selbst ein bisschen kindlich zu sein.
Lucy beobachtete mich. Sie kam keinen Schritt näher, war aber neugierig. Also zog ich mein Spiel in die Länge. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht und ließ es auf die Haare tröpfeln. Dann stand ich auf, ging zur Tür und ließ Wasserschale und Schwamm hinter mir zurück.
Ich verspürte den Impuls, einen Blick zurückzuwerfen, beherrschte mich aber. Sie war ein Kind und kein Zootier. Also ging ich weiter. Jorge, einer unserer neuesten Patienten, kam auf mich zugelaufen. Er wollte Domino mit mir spielen. Anschließend hatte ich meine Malstunde mit Aimee, einem zwölfjährigen suizidgefährdeten Mädchen. Sie saß wie ein Häufchen Elend am Tisch und malte einen schwarzen Himmel, aus dem es schwarz regnete. Ich schlug ihr vor, ein paar Farben hinzuzufügen, worauf sie die schwarzen Flächen mit roten Punkten betupfte. Jetzt blutete der Himmel.
Ich knuddelte sie kurz und kehrte in Lucys Zimmer zurück.
Sie saß wieder in der Sonne und hielt den Schwamm in der Hand. Neben ihr stand die Wasserschale.
Ihr Gesicht war sauber. Sie hatte die Kotspuren abgewischt und ihre verfilzten Haare
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