Die Frucht des Bösen
Nickerchen zwischendurch war gar nicht zu denken. Ich las Ratgeber zum Thema Schlafstörungen und ging immer wieder mit ihm zum Arzt. Kleine Kinder weinen halt viel, versicherte er mir. An Koliken konnte es nicht liegen. Auch sonst schien alles in Ordnung mit ihm zu sein. Für ein Frühchen machte Evan sogar recht gute Fortschritte. Der Arzt meinte, er sei vielleicht ein bisschen empfindlich, aber ansonsten vollkommen okay. Michael und ich schöpften Mut.
Michael war in dieser Zeit eine wundervolle Unterstützung für mich. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, nahm er mir Evan ab und wanderte unermüdlich mit dem weinenden Kind durchs Haus. Ich solle mir eine kleine Pause gönnen, sagte er, ein Buch lesen, ein Bad nehmen oder ein bisschen Schlaf nachholen. Gemeinsam würden wir schon klarkommen.
Mit vierzehn Monaten fing Evan zu laufen an. Plötzlich schlief er auch besser, müde und verausgabt vom ständigen Herumrennen. Hatte ich ihn vorher ständig zu beruhigen versucht, musste ich nun die ganze Zeit hinter ihm herjagen. Evan schien Probleme mit seinem Raumsinn zu haben. Er lief vor Wände, fiel von Stühlen und machte nicht halt vor schwingenden Schaukeln. Auf dem Spielplatz gefährdete er sich und andere.
Fremden gegenüber war er ohne jegliche Scheu. Er konnte sich nicht vorstellen, dass andere Kinder manchmal lieber allein spielten, und wenn ihn alle auf Abstand zu halten versuchten, machte er von seinen Ellbogen Gebrauch. Er hatte dieses gewinnende Lachen und leuchtend blaue Augen. Mit vierzehn Monaten schien es, als sei die Welt für ihn schon fast zu klein. Er hatte immer jede Menge zu tun, zu beobachten und zu erzählen.
Einmal saß eine ältere Dame neben mir auf der Parkbank und hörte sein magisches Lachen, als er sich durchs Herbstlaub wälzte.
«Er hat eine alte Seele», sagte sie, bevor sie ging. «Eine sehr alte Seele. Schauen Sie nur. Hören Sie hin. Er wird Ihnen beibringen, was Sie wissen sollten.»
Ungefähr zu dieser Zeit weigerte sich Evan, Kleidung zu tragen. Schon früher hatte er immer geschrien, wenn wir ihm etwas anderes als Baumwollsachen anzuziehen versuchten. Jetzt ließ er gar nichts mehr an sich heran. Ich sammelte auf, was er sich vom Leib riss, doch kaum hatte ich es ihm angezogen, machte er sich wieder frei.
Wir blieben häufiger im Haus. Mit einem nackten anderthalbjährigen Jungen kann man nicht durch einen öffentlichen Park spazieren.
Dazu entwickelte er nun neue und alarmierende Gewohnheiten. Zum Beispiel kletterte er immer wieder auf den Küchentresen, um an die Messer heranzukommen, die er dann an der Klinge festhielt. Es schien, als wollte er sich unbedingt die Hand aufritzen und erfahren, wie scharf die Schneiden sind. Und dann war er ganz versessen auf die Herdplatten, weshalb ich nur noch dann kochen konnte, wenn Michael zu Hause war. Je häufiger wir ihn warnten, dass er sich daran verbrennen könne, desto mehr drängte es ihn, seine Finger auf die glühend heißen Platten zu legen.
Eines Tages zerbrach er alle Eier in der Küche, weil ihm offenbar gefiel, wie es sich anhörte, wenn sie zu Bruch gingen (ich telefonierte gerade). Tags darauf ließ er im Badezimmer jedes meiner Parfümflakons auf den Fliesen zerspringen (ich war unten im Waschkeller). Irgendwann erwischte ich ihn am Porzellanschrank, als er diesen gerade ausräumen wollte (ich stand unter der Dusche, wurde hellhörig, weil es plötzlich ganz still im Haus war, und rannte, nur mit einem Handtuch bekleidet, durchs Haus auf der Suche nach ihm).
Der erste Experte, an den wir uns wandten, war ein Kinderpsychologe. Er stellte die erste Diagnose und attestierte Evan eine akute Wahrnehmungsstörung. Sein Gehirn, so sagte er, könne Sinneseindrücke nicht richtig verarbeiten; es befinde sich in einem Zustand permanenter Reizüberflutung, vergleichbar mit dem sprichwörtlichen Fass, das durch jeden weiteren Tropfen – sprich: einen Laut, einen Duft, eine Berührung und dergleichen – zum Überlaufen gebracht wird. Manches konnte er einfach nicht ertragen, zum Beispiel das Geräusch eines Reißverschlusses oder das Gefühl von Jeansstoff auf der Haut. Nach anderen Empfindungen war er geradezu verrückt, und denen versuchte er auf den Grund zu gehen, nämlich den durch scharfe oder heiße Gegenstände hervorgerufenen Schmerz. Er war wie eine Motte, die vom Feuer angezogen wurde.
Wir versuchten es mit Beschäftigungstherapie. Michael wollte, dass ich mir helfen ließ, und so engagierten wir unser
Weitere Kostenlose Bücher