Die Frucht des Bösen
Michael eine Freundin hat, aber … so schnell? Das ist entwürdigend.
«Du wirst das Blumenmädchen sein?»
«Auf Daddys und Melindas Hochzeit. Kurz vor Weihnachten. Ich trage ein Kleid aus grünem Samt.»
«Du … du wirst wunderbar darin aussehen.»
«Daddy sagt, Melinda wird meine neue Mommy sein.» Chelsea malt nicht mehr. Sie schaut mich an.
«Deine Stiefmutter. Nach der Hochzeit wirst du eine Stiefmutter
und
eine Mommy haben.»
«Gehen Stiefmütter auch im Friendly’s essen?»
Das ist zu viel für mich. Ich lege den Buntstift weg und starre auf den Tisch. «Ich habe dich lieb, Chelsea.»
Sie nimmt ihren Stift wieder auf und malt weiter. «Ich bin wütend», sagt sie fast beiläufig. «Ich will keine neue Mom. Sarah hat eine und findet das gar nicht toll. Ich will auch kein grünes Samtkleid. Das ist hässlich und viel zu warm.»
Ich sage nichts.
«Ich würde es am liebsten zerreißen», fährt sie fort. «Ich würde gern eine Schere nehmen und es kaputt schneiden. Schnipp, schnipp, schnipp. Oder vielleicht Farbe drüberkleckern. Dann brauche ich es nicht anzuziehen.» Sie blickt wieder auf. «Mommy, werde ich jetzt wie Evan?»
Mir schnürt sich die Kehle zu. Ich nehme ihre Hand. Da ist so vieles, was ich ihr gern sagen würde. Dass sie etwas ganz Besonderes ist, einmalig, wunderschön. Dass ich sie seit dem Augenblick ihrer Geburt von Herzen liebe. Dass es nicht ihre Schuld ist und auch nicht die des kranken Bruders.
«Du bist nicht wie dein Bruder, Chelsea. Evan … Evan hat Sachen im Kopf, die hat sonst niemand. Sein Gehirn funktioniert anders. Deshalb kann er sich nicht beherrschen und gerät außer sich. Bei dir ist das nicht der Fall. Es ist in Ordnung, wenn du manchmal wütend wirst. Das werden wir alle.»
«Ich kann Melinda nicht leiden», mault Chelsea. «Daddy arbeitet immer nur und hat keine Zeit für mich.»
«Das tut mir leid.»
«Hochzeiten sind blöd. Stiefmütter sind blöd. Blöd, blöd, blöd.»
«Liebes …»
«Warum kann Evan nicht einfach weggehen? Daddy sagt, wenn Evan nicht da wäre …»
Ich halte mich bedeckt. An der Stelle unterscheiden wir uns, Michael und ich. Er will seine Kinder gefügig haben, während ich zu akzeptieren gelernt habe, dass unser Sohn eine Krankheit hat, die bislang kein Arzt kurieren konnte. Aber Evan ist und bleibt unser Kind, und dass er Probleme hat, ist kein Grund, ihn fallenzulassen.
Die Kellnerin kommt und schiebt zwei Teller auf den Tisch. Ich verteile die Salatblätter neu; Chelsea stochert lustlos in ihrem Essen herum.
«Evan vermisst dich», sage ich nach einer Weile. «Er wünschte sich, mit dir in den Park gehen zu können.»
Chelsea nickt. Es gab eine Zeit, da standen sie und ihr Bruder sich sehr nahe. Als er noch ruhiger und auf seine Art bezaubernd war. Die beiden verkleideten sich gern, und er ließ es sogar zu, dass sie ihm die Haare machte. Sie spielten Verstecken oder formierten eine Rockband, die auf unsere Küchentöpfe eindrosch. Das waren wirklich schöne Zeiten für die beiden, und ich kann mir vorstellen, dass ihr der große Bruder manchmal fehlt. Natürlich kann ich mir auch vorstellen, dass es viele Vorfälle gab, an die sie lieber nicht erinnert wird.
Chelsea ist angeblich der Grund dafür, dass Michael mich verlassen hat. Er behauptet, meine hartnäckige Weigerung, Evan in ein Heim zu geben, habe das Leben unserer Tochter in Gefahr gebracht. Hat er recht? Habe ich recht? Wer soll das entscheiden? Was sich uns an Optionen bietet, ist nicht immer eine Wahl zwischen Gut und Schlecht. Ich kann meinen Sohn nicht opfern, nicht einmal meiner Tochter zuliebe.
Also sitze ich hier, und sie sitzt dort, und ich liebe sie so sehr, dass mir die Brust wehtut und ich keinen Bissen herunterbekomme. Ich sitze einfach da, diesem stillen kleinen Mädchen gegenüber, und versuche, ihr meine Liebe aufzuzwingen. Könnte ich einen kleinen Ball aus meiner Liebe formen und ihr an den Kopf werfen, würde sie diese Liebe vielleicht spüren. Vielleicht würde sie einsehen, dass ich sie mehr liebe als Evan und dass ich gerade aus diesem Grund von ihr loslassen musste.
Sie kommt auch ohne mich zurecht. Evan aber braucht mich.
Wir malen noch ein bisschen weiter. Meinen Salat rühre ich nicht an. Sie isst ein paar Pommes. Sie erzählt mir, dass sie es im Musik-Camp mal mit der Geige probieren will. Und Sarah und sie hätten sich gestritten, weil Sarah sagte, Hannah Montana wäre besser als die Cheetah Girls, aber dann hätten sie sich
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