Die Frucht des Bösen
Ozzie die größten Rätsel auf. Patricks Arbeitgeber konnte nur Positives über seinen ehemaligen Angestellten sagen. Und der Chef von Denise war so entsetzt über ihren gewaltsamen Tod, dass er kaum reden konnte. «Großartige Frau», «fürsorgliche Mutter», «ein Herz so groß wie der Himmel» und immer wieder unterdrückte Schluchzer – viel mehr war aus ihm nicht herauszubekommen.
Phil rief an und berichtete, was über die finanzielle Situation der Familie in Erfahrung zu bringen war: ziemlich genau das, was sie erwartet hatten. Das Konto der Harringtons war bis auf achthundert Dollar geschrumpft. Dabei hatten sie eine erhebliche Hypothekenlast zu tragen und einen Kredit in Höhe von zehntausend Dollar zu bedienen. Bislang waren sie nie in Zahlungsverzug geraten. Dass sie aber ihren Verpflichtungen bald nicht mehr hätten nachkommen können, war abzusehen gewesen.
Das einzige Geld, das monatlich reinkam, war ein Betrag, den ihnen der Staat zur Unterstützung Ozzies zukommen ließ. Dazu kam das Gehalt von Denise als Rezeptionistin, das vor kurzem sogar ein bisschen erhöht worden war. Vorausgesetzt, sie hätte die oberen beiden Etagen vermieten können, wäre die Familie bei gleichbleibendem Zinsniveau mit Ach und Krach über die Runden gekommen. Phil und Professor Alex wollten am Abend ausführlicher der Frage nachgehen, ob Patrick Grund zur Verzweiflung hatte oder eher nicht.
Was, wenn sein Haus tatsächlich unter den Hammer gekommen wäre? Patricks erste Frau war tot, Denises Exgatte wie von der Erdoberfläche verschwunden. Gab es Familienangehörige, bei denen sie hätten unterkommen können? Wäre von der Kirche Hilfe zu erwarten gewesen?
D. D. wollte Antworten auf diese Fragen. Mehr noch, sie wollte wissen, ob Denise oder Patrick selbst entsprechende Erkundigungen eingeholt hatten. Wie tief war der Abgrund, vor dem sie gestanden hatten, aus ihrer eigenen Sicht gewesen? Konnten sie sich sagen:
Sei’s drum, wenn alle Stricke reißen, können wir immer noch zum Bruder ziehen;
oder hieß es in ihrem Fall eher:
Verdammt, unsere Kinder kommen in ein Heim und müssen dort bis zur Volljährigkeit versauern?
Achtzehn Stunden nach dem Notruf bilanzierte D. D. vier Tote und einen Schwerverletzten in kritischem Zustand. Als Tatverdächtige standen ihr ein Familienvater und dessen neunjähriger psychotischer Sohn zur Auswahl. Der Vater hatte die körperlichen Voraussetzungen für eine solche Tat, sein Sohn die psychischen.
Letzteres machte einen Besuch in der Kinderpsychiatrie des Kirkland Medical Centers von Boston unumgänglich. Professor Alex, ihr neuer Schatten, begleitete sie.
Ihre ersten Eindrücke von der Station deckten sich nicht mit ihren Erwartungen. In den hohen Raum, den sie betrat, fiel durch Panzerglasfenster natürliches Licht auf einen blassgrünen Teppichboden und hellblau gestrichenen Wände. Die fest verschraubten Bänke hatten hübsche Bezüge mit aufgedruckten gelben Enten, und auf mehreren Tischen standen Eimer voller Legosteine. Es hätte ebenso gut das Wartezimmer einer Kinderarztpraxis für Privatpatienten sein können. Nur dass hier die Kinder sehr viel länger untergebracht waren.
D. D. wollte sich gerade an Alex wenden, als ein dunkelhäutiges Mädchen mit rotem Helm, aus dem zwei Zöpfe baumelten, auf Rollerblades vorbeizischte. Ihr dicht auf den Fersen ein kleinerer Junge in labbriger blauer Trainingshose, nicht ganz so geschickt, aber umso entschlossener.
D. D. und Alex sprangen zurück.
«Becca, Arnie, nicht weiter als bis zum orangen Hütchen», donnerte eine Männerstimme. Das Mädchen und der Jungen machten kehrt – sie elegant, er mit Mühe und Not – und fuhren wieder zurück, ein zweites Mal knapp an D. D. und Alex vorbei.
«Entschuldigen Sie», rief der Mann und klang dabei eher amüsiert als verlegen. Er war noch jung und hatte kurzgeschnittene braune Haare. Vor ihm lag ein orangefarbener Pylon auf dem Boden. In seiner blauen Trainingshose und dem engen weißen T-Shirt, durch das sich kräftig ausgebildete Muskelpakete abzeichneten, sah er aus wie ein Sportlehrer. Er hielt ein Klemmbrett in der Hand, und an einem Band, das er um den Hals trug, hingen ein Ausweis und mehrere Schlüssel.
Seine Schutzbefohlenen flitzten auf das große Fenster am anderen Ende des langen Flures zu. Er drehte sich um und rief: «Nicht so schnell, Arnie. Entspann dich, du musst nicht gleich beim ersten Mal gewinnen.»
D. D. hielt es für sicherer, dicht an der Wand zu
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