Die Frucht des Bösen
anderen Kunden mit Lebensmitteln bewarf. Vielleicht würde ihr Kind im Restaurant nicht die Pasta auf den Boden fallen lassen, die Hand in die rote Soße tauchen und Abdrücke damit machen.
Vielleicht schlief sie nachts durch, las morgens Zeitung und konnte sich geistreich mit anderen über aktuelle Themen unterhalten.
Oder vielleicht kicherte sie auch nur und gab Michael das Gefühl, ein toller Typ zu sein.
Als Mutter versucht man alles, liebt bedingungslos, kämpft bis zur Erschöpfung und hofft noch, wenn andere längst verzweifeln.
Bis zum allerletzten Moment fürchtet sie auch noch, zu wenig versucht, geliebt, gekämpft und gehofft zu haben.
Es ist Freitagnachmittag, vier Uhr. Am Himmel ziehen dunkle Gewitterwolken auf. Nach der langen Hitzewelle werden sich die meisten über eine Abkühlung freuen. Mir ist es einerlei. Ich bin zu spät aufgebrochen und fahre jetzt zu schnell, um Zeit wettzumachen.
Mir bleiben nur zwei Stunden, und das zweimal in der Woche. Die kann ich mir nur deshalb erlauben, weil ich von dem Unterhalt, den Michael zahlt, zweimal in der Woche Kurzzeitpflege in Anspruch nehme, eine ausgebildete Hilfskraft, die auf Evan aufpasst. In diesen freien Stunden gehe ich einkaufen, in die Apotheke, zur Bank und besorge all das, was mit Evan im Schlepptau nicht möglich ist. Das war gestern Abend. Heute, an einem zweiten freien Abend in dieser Woche, fahre ich zu Friendly’s.
Dort bin ich mit meiner Tochter verabredet.
Ich finde Chelsea in einer Sitzecke im hinteren Teil des Lokals; ihr gegenüber sitzt Michael. Er trägt einen hellen Sommeranzug und ein knallblaues Oberhemd von Johnston & Murphy. In dem auf Figur geschnittenen Jackett kommt sein athletischer Körper gut zur Geltung. Anscheinend geht er immer noch einmal pro Woche zum Boxtraining. Man kann einen Kerl aus seiner Nachbarschaft herausholen, aber nicht die Nachbarschaft aus dem Kerl.
Als er mich sieht, wie ich durch das dicht besetzte Restaurant auf ihn zukomme, steckt er seinen BlackBerry weg und steht auf.
«Victoria», sagt Michael.
«Michael», erwidere ich.
Derselbe Gruß jede Woche. Wir weichen nie von unserer Routine ab.
«Ich bin um halb sieben zurück», verspricht er Chelsea und gibt ihr einen Kuss auf die Wange.
Dann ist er weg, und ich bin mit meiner Tochter allein.
Chelsea ist sechs. Sie hat Michaels dunkle Haare und meine Gesichtszüge, ist groß für ihr Alter und ziemlich frühreif. Das bleibt wohl nicht aus, wenn ein junges Mädchen einen Bruder wie Evan hat.
«Hast du dir schon was bestellt?», frage ich, rutsche auf Michaels Platz und lege meine Handtasche neben mich auf den roten Kunststoffbezug.
Sie schüttelt den Kopf.
«Worauf hättest du denn Lust?» Meine Stimme klingt bemüht. So ist es jedes Mal. Ich habe einen Abend in der Woche, an dem ich meiner Tochter zu beweisen versuche, dass ich sie liebe. Ihr bleiben sechs Abende, um Gegenbeweise zu sammeln.
Chelsea klappt die Speisekarte zu und schreckt zusammen, als irgendwo ein Luftballon zerplatzt. Bei der Scheidung wurde vereinbart, dass sich Michael um eine therapeutische Betreuung für unsere Tochter kümmert. Ob er sich daran hält, weiß ich nicht. Er ist nach unseren Erfahrungen mit Evan auf Therapeuten nicht gut zu sprechen.
Aber Chelsea ist nicht Evan. Sie ist ein bezauberndes kleines Mädchen, das in den ersten fünf Jahren immer im Ungewissen darüber war, ob ihr Bruder sie zärtlich umarmen oder in psychotischer Wut über sie herfallen würde. Im Alter von zwei Jahren lernte sie wegzulaufen und sich im Badezimmer einzuschließen. Mit drei konnte sie schon die 911 wählen. Und vor elf Monaten hat sie mit angesehen, wie Evan das Stemmeisen in der Garage fand und alle Fensterscheiben einschlug.
Am Tag darauf zogen Michael und Chelsea aus. Evan und ich sind seitdem allein.
«Was macht die Schule?», frage ich.
Sie zuckt mit den Achseln. Ich muss ihre Stimmung respektieren und greife zu den Buntstiften, die in einem Becher auf dem Tisch stehen, drehe mein Platzdeckchen um und fange zu malen an. Nach einer Weile folgt sie meinem Beispiel. So beschäftigen wir uns wortlos, und ich rede mir ein, dass ich mich damit begnügen sollte.
Die Kellnerin kommt. Ich bestelle einen gemischten Salat. Chelsea will Chicken Nuggets mit Pommes.
Wir malen weiter.
«Ich werde das Blumenmädchen sein», sagt sie unvermittelt.
Ich halte die Luft an und suche nach dem gelben Stift.
Hochzeit?
Wir sind erst seit sechs Monaten geschieden. Ich weiß, dass
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