Die Frucht des Bösen
nervös auf Polizei reagierte.
«Fünfzehn. Eigentlich zu viele, aber überbelegt sind wir noch nicht.»
«Überbelegt?»
Danielle ließ sich mit der Antwort Zeit. «Überbelegt wären wir, wenn wir uns nicht mehr um jedes Kind intensiv genug kümmern könnten. Entscheidend ist nicht die Anzahl, sondern die Gruppendynamik. Wenn wir es ausschließlich mit Kindern zu tun hätten, die überhaupt nicht zusammenpassen, wären wir schon mit acht überfordert. Bei günstiger Zusammenstellung könnten wir aber auch achtzehn betreuen.» Sie legt eine Pause ein. «Zugegeben, lieb wär mir das nicht gerade.»
«Wie lange arbeiten Sie schon hier?», fragte D. D.
«Seit acht Jahren.»
«Ganz schön lange unter solchen Bedingungen.»
Die Schwester zuckte mit den Achseln. «Wir sind hier sehr fortschrittlich, was unsere Arbeit leichter macht als in den meisten anderen Kinderpsychiatrien. Manche unserer MC s arbeiten hier schon zwanzig Jahre oder mehr.»
« MC s?», hakte Alex nach.
«
Milieu
counselors
. Oder Sozialarbeiter. Ist Ihnen der Kollege im Aufenthaltsraum aufgefallen, der mit der tiefen Stimme?»
«Der Sportlehrer», sagte D. D.
«Greg. Er ist
Milieu counselor
. Wir bezeichnen den Lebensbereich unserer Station als Milieu. Gregs Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass dieses Milieu erhalten bleibt – als eine sichere, förderliche und dynamische Umgebung. MC s brauchen kein Diplom, dafür aber jede Menge Energie und Kreativität, um mit den Kindern arbeiten zu können.»
«Was ist das Fortschrittliche an Ihrer Station?»
«Wir betäuben unsere Kinder nicht –»
«Betäuben?», unterbrach D. D.
«Medikamente. Klar, wir geben ihnen, was der Arzt verordnet hat, in Ausnahmefällen auch Mittel wie Benadryl zur Beruhigung. Aber wir wollen sie aufbauen und nicht bloß ruhigstellen.»
Danielle fummelte an ihrem Strohhalm herum. Weil D. D. nicht gleich eine weitere Frage stellte und sich das Schweigen in die Länge zog, setzte die Schwester ihre Ausführungen fort.
«Wir verzichten außerdem darauf, die Kinder zu fesseln, was häufig in anderen Kliniken praktiziert wird, wenn ein Patient zu toben anfängt. Es heißt dann, das sei in deren eigenem Interesse, aber das ist Unsinn. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen: Wir hatten einmal ein fünfjähriges Mädchen bei uns, dessen Schultergelenke immer wieder ausgekugelt sind, weil die Eltern eine ganz eigene Vorstellung vom Babysitten hatten. Sie fesselten die Kleine, um in die Kneipe gehen zu können. Als das Mädchen schließlich mit schweren Dehydrationserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, ordnete ein Assistenzarzt an, sie ans Bett zu fesseln, weil das Mädchen kaum zu bändigen war. Können Sie sich vorstellen, was das für dieses Mädchen bedeutete? Endlich kommt sie von den Eltern frei und wird wieder wie ein Tier an die Kette gelegt. Achtzig Prozent unserer Kinder sind schwer traumatisiert. Wir müssen nicht noch mehr an Verletzungen draufpacken.»
«Keine Betäubung, keine Fesseln», fasste D. D. zusammen. «Aber was, wenn alle Kinder auf einmal durchdrehen?»
«Dann greift das, was wir unter CPS verstehen –
collaborative problem-solving
, also gemeinschaftliche Problemlösung, ein Konzept, das von Dr. Ross Greene, einem Experten für Kinder mit hohem Aggressionspotenzial, entwickelt wurde. Dr. Greene geht davon aus, dass sich ein Kind angemessen verhält, wenn es dazu in der Lage ist. Mit anderen Worten, Kinder, die sich nicht angemessen verhalten, wissen es einfach nicht besser. Sie haben zum Beispiel eine zu niedrige Frustrationsschwelle oder kognitive Defizite. Unser Ziel ist es, einem Kind Fähigkeiten beizubringen, die ihm noch fehlen, und zwar durch CPS .»
«Soll das heißen», hakte Alex nach, «ein Kind dreht durch, und Sie … reden ihm gut zu?
Hallo, mein Schatz, dass du den Stuhl durchs Fenster geworfen hast, ist nicht richtig. Und du, mein lieber Georgie, hör bitte auf, die kleine Jane zu würgen.
»
Danielle rang sich ein Lächeln ab. «Interessant, die meisten Eltern reagieren genau wie Sie. Beispiel gefällig?»
«Bitte», antwortete er.
«Ein zehnjähriges Mädchen wurde eingeliefert aufgrund heftiger Tobsuchtsanfälle und wiederholter Brandstiftung. Zwei Stunden nach ihrer Aufnahme trat sie auf Greg zu, den Sportlehrer, und schmierte ihm eine. Wortlos. Einfach so.»
«Und was tat Greg?», wollte D. D. wissen.
«Nichts. Der Kerl wiegt an die hundert Kilo, das Mädchen brachte gerade mal dreißig
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