Die Frucht des Bösen
auf die Waage. Ihr Fausthieb prallte von seinem Bauch einfach nur ab. Dann versuchte sie, ihm in die Hoden zu treten, worauf er einfach wegging.»
Alex sperrte die Augen auf. «Keine Pillen, keine Fesseln?»
«Zwei Kollegen übernahmen und brachten das Mädchen zurück auf ihr Zimmer. Sie schlug um sich und brüllte wie am Spieß. Andere Kinder wurden nervös, worauf unsere Oberschwester die beiden Kollegen wegschickte. Kaum waren sie verschwunden, beruhigte sich das Mädchen und kehrte friedlich von sich aus auf ihr Zimmer zurück.»
«Soll heißen, die Männer haben sie in Rage gebracht?», fragte D. D. «Hatte sie einschlägige Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht?»
«Exakt. Mit großen dunkelhaarigen Männern, um genau zu sein, mit all denjenigen, die sie auf die eine oder andere Weise an ihren Stiefvater erinnerten. Solche Typen reizten sie zur Weißglut. Von dieser Beobachtung ausgehend, konnten wir mit ihr arbeiten. Wir hätten sie nie gemacht, wenn das Mädchen gefesselt oder mit Medikamenten ruhiggestellt worden wäre.»
«Na schön», räumte Alex ein. «Aber mit Worten allein ist es doch wohl kaum getan.»
«Nachdem sich das Mädchen beruhigt hatte, ließen wir mit ihr den Vorfall noch einmal Revue passieren. Wir sprachen über ihr Verhalten. Ich nannte ihr andere Möglichkeiten der Reaktion auf Männer oder Jungen – Mord und Totschlag ausgenommen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich spreche von einem langwierigen Prozess, und darin besteht unsere Aufgabe hier: Kindern dabei zu helfen, sich bewusstzumachen, was in ihren Köpfen passiert und wie sie das emotionale Chaos darin ordnen können. Kinder wollen anständig sein. Sie wollen sich im Griff haben und sind unter geeigneter Anleitung gern bereit, an sich zu arbeiten.»
«Haben Sie dem Mädchen helfen können?», fragte Alex.
«Am Ende ihres Aufenthaltes bei uns war sie dick mit Greg befreundet.»
«Und Ozzie Harrington?», sagte D. D. «Haben Sie mit ihm auch so eine Erfolgsgeschichte erlebt? Als brüllender Löwe gekommen und als sanftes Lamm verabschiedet?»
Danielle schien dichtzumachen. Sie lehnte sich zurück und fuhr mit dem Daumen über die Akten. Der Blick aus ihren blauen Augen war hart und voller Argwohn. Seltsam, seltsam, dachte D. D.
«Was ist eigentlich passiert?», wollte die Schwester wissen, ohne auf die an sie gestellte Frage einzugehen.
«In letzter Zeit mal ferngesehen?», entgegnete D. D.
«Nein. Ich hatte hier zu viel zu tun.»
«Aber Sie nehmen an, dass es mit Ozzie kein gutes Ende genommen hat, stimmt’s?»
«Er ist tot, nicht wahr?»
«Noch einmal gefragt: Warum fürchten Sie das Schlimmste?»
«Weil Karen mich gebeten hat, mit Ihnen zu reden. Wenn Ozzie noch leben würde, dürfte ich Ihnen nichts über ihn sagen, da ich an meine Schweigepflicht gebunden wäre.»
D. D. dachte kurz nach und sagte dann: «Ja, er ist tot.»
«Nur er, oder hat er auch andere verletzt?»
«Erzählen Sie uns doch bitte, was Sie denken.»
«Scheiße.» Danielle schlug die Akte auf.
«Oswald wurde im Frühling vergangenen Jahres bei uns aufgenommen. Er hatte sechs Monate bei seiner Pflegefamilie gelebt, als es zu einem psychotischen Ausbruch kam. Die Eltern waren am Abend ausgegangen und hatten ihn und seine beiden Geschwister mit einer Babysitterin allein im Haus zurückgelassen. Kurze Zeit später klingelte bei Mrs und Mr Harrington gleichzeitig das Handy – sie saßen in einem Restaurant. Die Babysitterin sowie die beiden älteren Geschwister hatten sich im Badezimmer eingesperrt. Vor der Tür stand Ozzie, mit einem Hammer bewaffnet, und schrie, dass er sie alle töten werde.
Die Eltern forderten die Babysitterin auf, den Notruf zu alarmieren, und fuhren sofort nach Hause zurück. Als sie ankamen, war Ozzie gerade von zwei Polizisten überwältigt worden. Ein Notarzt sedierte den Jungen und brachte ihn ins Krankenhaus, das ihn dann an uns überwies.
Bei seiner Einlieferung befand er sich in einem geradezu katatonen Zustand. Wir beobachten das häufig bei Kindern unmittelbar nach einer traumatisierenden Erfahrung. Während der ersten achtundvierzig Stunden wurde er mit Ativan ruhiggestellt. Währenddessen studierten wir seine Krankengeschichte. Es lagen etliche jeweils anderslautende Befunde vor. Mal war von ADHS die Rede, mal von mehr oder weniger spezifizierten Anpassungs-, Lern- oder Entwicklungsstörungen. Die Fachärzte meinten, dass zu wenig über seine ersten Lebensjahre bekannt sei, da seine
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