Die Frucht des Bösen
Er schien gut darauf anzusprechen, jedenfalls während der ersten acht Wochen. Dann beobachteten wir Symptome, die auf eine Akathisie schließen ließen, und mussten das Medikament absetzen.»
«Akathisie?»
«Das ist eine unbezwingbare motorische Unruhe. Ozzie klagte über Zwerge, die in ihm steckten und ihm die Knochen brechen würden. Außerdem litt er unter perseverativen und obsessiven Interessen.»
«Auch das müssen Sie uns erklären.»
«Ich spreche von zwanghaften Gedanken. Hat sich der Patient zum Beispiel in den Kopf gesetzt, ein rotes Auto haben zu müssen, lässt ihn dieser Wunsch nicht mehr los. Es kommt vor, dass er sechs, sieben Stunden lang immer wieder sagt:
Ich will ein rotes Auto, ich will ein rotes Auto, ich will ein rotes Auto.
Setzen Sie anstelle dieses harmlosen Wunsches eine Tötungsabsicht, dann wissen Sie, wie gefährlich perseverative Gedanken sind.»
«Das arme Kerlchen hat ganz schön was durchmachen müssen mit seinen erst – wie alt war er? – sieben, acht Jahren», meinte D. D., zur Abwechslung mal ohne jeden zynischen Unterton.
«Er war acht – und unter den Kindern, die zu uns kommen, keine Ausnahme. Die meisten Eltern meinen, das Schlimmste, was ihrem Kind passieren kann, wäre Krebs. Aber das ist falsch. Viel schlimmer sind psychische Erkrankungen. Gegen Krebs kann man was machen. Aber psychische Störungen in der Vorpubertät … Es gibt nur einige wenige Medikamente, die wirklich helfen, und bei längerer Einnahme verlieren sie an Wirksamkeit, sodass wir am Ende ohne jede Notbremse dastehen. Wir können sie vielleicht eine Weile stabilisieren, aber nicht ausschließen, dass sie über kurz oder lang wieder in den Abgrund stürzen.»
«Ist das im Fall Ozzie geschehen?», fragte D. D.
Danielle blätterte durch die Patientenakte. «Als wir das Aripiprazol abgesetzt hatten, behauptete er, Gespenster würden vor seinem Zimmerfenster auftauchen und ihm befehlen, Menschen zu töten. Also setzten wir die Behandlung mit Aripiprazol fort, allerdings in sehr geringer Dosis, um das Risiko der Nebenwirkungen zu minimieren. Kurzfristig konnten wir in seinem Verhalten eine positive Veränderung feststellen.»
«Kurzfristig», warf D. D. ein. «Soll heißen, auf lange Sicht …»
«Wir wissen nicht, was folgte.»
«Wieso nicht?»
Die Schwester schüttelte den Kopf. «Seine Eltern holten ihn nach Hause zurück. Gegen unseren Rat. Sie waren gerade umgezogen, und Denise wollte ihn unbedingt wieder unter ihre Fittiche nehmen.»
Alex hob eine Hand. «Ich höre wohl nicht richtig. Ozzie sieht Gespenster, die ihn auffordern zu töten, und die Eltern holen ihn nach Hause?»
«So was kommt vor.»
D. D. beugte sich über den Tisch. «Vergessen Sie für eine Minute die Patientenakte. Versuchen wir, Sie und ich, zu verstehen, was im Falle dieses Jungen geschehen ist. Wie kommen Sie darauf, dass Ozzie jemandem wehgetan haben könnte? Warum waren Sie vom unglücklichen Ausgang seiner Geschichte so überzeugt? Nennen Sie mir den wahren Grund seiner Entlassung aus Ihrer Klinik.»
Danielle schien mit sich kämpfen zu müssen. Sie wirkte niedergeschlagen und presste die Lippen aufeinander.
«Denise war bei einem Wunderheiler», antwortete sie schließlich. «Er versprach, Ozzie helfen zu können. Ganz ohne Medikamente. Sagte, er werde ihn ‹ans Licht führen›.»
«Nicht zu fassen.»
«Aber so war es. Dieser Junge hat eine schwere Psychose, und seine Mutter bringt ihn – wortwörtlich – ‹mit einem Experten für negative und positive Energien› zusammen. Wir haben versucht sie umzustimmen. Sie sagte, weil wir ihrem Sohn nicht helfen könnten, hätte sie sich nach anderer Hilfe umgesehen.»
«Ich glaube nicht, dass uns das weiterführt», meinte Alex.
«Nicht? Dann erzählen Sie mir, was passiert ist.»
«Das wissen wir nicht. Jedenfalls gibt es die Familie nicht mehr.»
«Die Familie? Die
ganze
Familie?» Danielle wurde kreidebleich. Sie blinzelte verwirrt mit den Augen, fasste sich dann aber wieder. Plötzlich aber hatte sie sich wieder gefasst. «Die Familie aus Dorchester», murmelte sie. «Ich habe nur ein paar Wortfetzen aufgeschnappt, aus den Radionachrichten. Ozzie war’s?»
«Wer es war, steht noch nicht fest», korrigierte D. D.
«Ich dachte, es wäre der Vater. Danach hörte es sich jedenfalls an.»
«Wir werden das klären.»
Kopfschüttelnd starrte Danielle auf den Tisch. «Verdammt. Wir haben Denise gewarnt. Sie müssen … Andrew Lightfoot. Das ist
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