Die Frucht des Bösen
Flur. Ein Junge um die sechzehn lag, alle viere von sich gestreckt, vor der Tür des ersten Schlafzimmers. Von zwei Schüssen niedergestreckt, wie es schien. Der eine hatte ihn am Oberschenkel erwischt; der zweite, tödliche, hatte ein sauberes rundes Loch zwei Zentimeter über dem linken Auge in die Stirn geschlagen.
Im Schlafzimmer beugte sich Alex über die Leiche einer Jugendlichen in Unterhose und Trägerhemdchen. Anscheinend hatte sie im Doppelbett gelegen und geschlafen und dann, vielleicht von einem Geräusch im Flur aufgeweckt, die Decke zur Seite geworfen. Wahrscheinlich hatte sie sich gerade aufgerichtet, war aber gleich wieder, von einer Kugel über dem rechten Auge getroffen, zur Seite weggesackt. Eine ihrer Hände hielt die rosafarbene Decke umklammert.
Das Schlafzimmer war sauberer als die anderen Räume, bemerkte D. D., winzig klein und vollgestellt, aber ordentlich. Das Mädchen hatte die Wände rosa gestrichen und mit grünen und blauen Schlierenmustern versehen. Ihr Allerheiligstes, dachte D. D. und betrachtete den Stoß Bücher in der Ecke.
«Das dritte Kind liegt hinter mir», sagte Alex.
«Das dritte Kind?»
«Am Boden.»
D. D. und Bobby traten vorsichtig ans Fußende des Bettes. Tatsächlich, in der Lücke zwischen Bett und Außenwand lag ein kleines Kissen, darauf ein sehr viel jüngeres Kind, ein Mädchen, vielleicht drei oder vier Jahre alt. Sie hatte ihre Finger um eine zerlumpte Decke gekrallt und immer noch einen Daumen im Mund. Wäre nicht das Blut an ihrer linken Schläfe gewesen, hätte man meinen können, sie schliefe.
«Wie es scheint, ist sie gar nicht aufgewacht», sagte Alex leise und verhalten.
«Sieht so aus», murmelte D. D. «Das ist doch bestenfalls ein Bett für Hunde, auf dem sie da liegt.»
«Würde ich auch sagen», bestätigte Bobby mit schwacher Stimme.
«Und was zum Teufel ist mit ihren Armen und Beinen?» D. D. war näher herangerückt und zeigte auf etliche Narben und verkrustete Schnittwunden in der Haut des Mädchens. Allein an einem der verschmutzten Beine zählte sie nicht weniger als zwölf. Die Wunden schienen dem Mädchen mit einem Rasiermesser zugefügt worden zu sein.
«Erzähl mir bitte jemand, dass die Fürsorge eingeschaltet worden ist», flüsterte sie, realisierte aber sogleich, dass es dafür längst zu spät war.
Sie und Bobby verließen das Schlafzimmer, machten einen Bogen um den toten Jungen und gingen ins letzte Zimmer. Es war nur wenig größer als das andere. Ein Doppelbett stand vor der Wand, daneben eine alte Wiege aus Holz.
Bobby blieb in der Tür stehen, als sie auf die Wiege zusteuerte. Sie zwang sich, hineinzusehen und den Anblick für zwei, drei Minuten auszuhalten. Sie verstand es als eine Art Totenwache. Das war man ihnen schuldig, den Toten, dass man sich ein bisschen Zeit für sie ließ, sie betrachtete, sich an sie erinnerte und ehrte.
Und dann galt es, das Schwein zur Strecke zu bringen, das dafür verantwortlich war.
Sie wandte sich der Tür zu und war selbst überrascht, wie klar und fest ihre Stimme klang. «Säugling. Tot. Keine Schussverletzung. Wahrscheinlich erstickt. Das Kissen liegt noch auf dem Bauch.»
«Junge oder Mädchen?», fragte Bobby.
«Was macht das aus?»
«Junge oder Mädchen?», knurrte er.
«Mädchen. Komm, Bobby. Nichts wie raus.»
Mit jedem Schritt liefen sie Gefahr, Beweismaterial zu vernichten oder, schlimmer noch, über Leichen zu stolpern. Aber sie mussten einfach raus in die schwüle Sommernacht.
Draußen vor der Haustür atmete sie ein paarmal tief ein. Von der Einfahrt drang Lärm zu ihnen herüber. Nachbarn, Reporter, Schaulustige. Was mochte mehr Leute auf die Straße locken als ein solcher Tatort?
D. D. war angewidert. Wütend. Niedergeschlagen.
Manchmal war dieser Job einfach zu viel.
«In welcher Reihenfolge? Zuerst der Mann, dann die Mutter, dann die Kinder? Was meinst du?»
Sie schüttelte den Kopf. «Warten wir, was die kriminaltechnische Untersuchung ergibt. Hast du eigentlich Alex Wilson schon kennengelernt?»
Kopfschütteln.
«Er unterrichtet Tatortanalyse an der Polizeiakademie und schaut uns einen Monat lang über die Schulter. Smarter Typ. Spätestens morgen früh wird er einen Bericht vorlegen.»
«Ledig?», fragte Bobby.
«Leck mich!»
«Du hast davon angefangen.»
Sie schoss ihm einen Blick zu. «Inwiefern?»
«Du hast ihn smart genannt. Und dass du einen Mann smart finden kannst, ist mir neu.»
«Dich habe ich auch mal für smart gehalten. Meine
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