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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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konnte, versuchte es aber trotzdem.
    Wie lange hatte sie auf den Kühltruhendeckel eingeschlagen? Wie viele Tage und Stunden war sie an ihr Bett gefesselt gewesen, die Arm- und Beinmuskeln verkrampft im unablässigen Bemühen, sich loszureißen?
    Solche Kinder waren zäher als wir. Sie waren tapferer als wir. Auch deshalb liebten wir sie.
    Wir zogen uns langsam in den hell erleuchteten Flur zurück, wo sich bereits erste Dominoeffekte infolge der Schreierei Lucys bemerkbar machten. Kinder tauchten in den Türen auf, und Jimmy rannte mit ausgestreckten Armen an uns vorbei, um als Düsenjäger Stress abzubauen, Jorge und Benny waren ihm dicht auf den Fersen.
    Die gesprächigen Kinder plapperten drauflos. Die Sprachgehemmten rollten sich am Boden zusammen. Aimee, das suizidgefährdete Mädchen, sah offenbar ihre Befürchtungen, was den Weltuntergang betraf, bestätigt und schlurfte ins Dunkel ihres Zimmers zurück, gefolgt von Cecille.
    Lucy fing wieder zu heulen an, diesmal in dünnen, wehklagenden Lauten, die kurz abbrachen, um dann zu einem gewaltigen Crescendo anzuschwellen.
    «Sie soll aufhören, sie soll aufhören, sie soll aufhören!», brüllte Jimmy durch den Flur, die Arme starr ausgestreckt und mit flatterndem Bademantel.
    Lucy wurde noch lauter.
    «Aufhören, aufhören, aufhören!»,
stimmten Benny und Jorge in die Proteste mit ein.
    «Party im Fernsehzimmer!», brüllte Ed über den allgemeinen Krawall hinweg. «Popcorn für alle!»
    Er trieb die aufgebrachten Kinder vor sich her, weg von Lucys Zimmer in Richtung Aufenthaltsraum. Ich begleitete ihn, um dann so kontrolliert wie möglich weiter zur Arzneimittelausgabe zu eilen. Am liebsten wäre ich gerannt.
    Die Schreie dauerten an, eine herzzerreißende Tonleiter, die alle erbleichen ließ, obwohl wir beruhigend zu lächeln versuchten.
    Ich dachte wieder unwillkürlich an meinen Vater zurück, wie er, vom Licht im Flur umstrahlt, in meiner Tür gestanden hatte.
«Oh Danny girl. My pretty, pretty Danny girl.»
    Zum Ende dieser Zeile hatte seine Stimme so schrill geklungen wie die von Lucy jetzt. Schwanengesänge.
    Ich wollte, dass Lucy zu schreien aufhörte. Ich konnte es nicht länger ertragen.
    Ich erreichte endlich die Arzneimittelausgabe und schnappte mir ein Fläschchen Ativan. Zwei Kinder rannten vorbei. Ich fing sie ein und brachte sie ins Fernsehzimmer, wo sich inzwischen die MC s versammelt hatten. Ein Film lief in einer Lautstärke, die den Lärm weiter unten im Flur übertönte.
    Lucy schrie ohne Ende. Ich rannte, was das Zeug hielt. Das richtige Sedativ zu haben war nur die halbe Miete. Das eigentliche Problem bestand in der Verabreichung. Die meisten Kinder ließen sich mit freundlichen Worten oder Versprechungen bestechen. Aber mit Lucy konnte man nicht reden.
    Sie war ein fleischgewordenes Rätsel, eines, das im Augenblick so gellend schrie, dass mir der Schädel dröhnte. Normale Glasscheiben wären wahrscheinlich gesprungen, und eigentlich war es ein Wunder, dass nicht das ganze Haus implodierte vor lauter Angst und Qual.
    «Oh Danny girl. My pretty, pretty Danny girl.»
    Ich steckte drei Stücke Käse ein, schnappte mir ein Kofferradio und rannte los.
     
    Ich betrat das Zimmer ohne jede Zurückhaltung. Lucy war so außer sich, dass ich mir Rücksichtnahme ersparen konnte. Sie registrierte mich sofort und stürzte mit gekrallten Händen auf mich zu.
    Ihr Schlag erwischte mich an der Schulter, so heftig, dass ich zurücktaumelte und japsend nach Luft schnappte. Ihre zerzausten braunen Haare standen in alle Richtungen, und die verzweifelt aufgerissenen Augen schienen viel zu groß für das kleine, bleiche Gesicht zu sein.
    Sofort nahm sie einen zweiten Anlauf. Unwillkürlich riss ich das Kofferradio hoch. Sie prallte so fest mit der Hand dagegen, dass es krachte, zog den Arm zurück und hielt wimmernd die Hand vor die Brust.
    Ich drückte auf Play. Klaviermusik plätscherte leise durch den Raum, Musik, die selbst wildeste Tiere besänftigte.
    Aber nicht Lucy. Sie trat mir vors Schienbein.
    Ich wich zurück und versuchte, sie auf Abstand zu halten, doch sie attackierte mich immer wieder, auf Zehenspitzen trippelnd und mit stierem Blick auf mein Gesicht.
    Sie war darauf aus, mir die Augen auszukratzen. Ich sah es ihr an. In ihrem Innern schien ein Schalter umgelegt zu sein. Sie war nicht mehr zu bremsen und wollte Blut sehen. Sie brauchte es.
    Ich blieb in Bewegung, ließ mich nicht in eine der Ecken drängen und versuchte, mir den Fluchtweg

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