Die Frucht des Bösen
Mutter? Was hat sie damit zu tun?»
«Oder vielleicht Ihrem Bruder», sagte Dr. Frank.
Ich starrte ihn fassungslos an.
«Oder wie wär’s mit Ihrer Schwester Natalie, Sheriff Wayne oder Tante Helen?»
«Wovon reden Sie überhaupt?»
«Davon, dass es in Ihrem Leben viele Bezugspersonen gibt. Trotzdem geben Sie Ihrem Vater alle Macht in die Hand. Warum eigentlich? Können Sie sich das erklären?»
«Er hat Leben gegeben und Leben genommen, wie Gott, und ich schätze, deshalb mache ich ihn zu Gott.»
«Gott trinkt nicht flaschenweise Whisky, Danielle. Das hoffe ich zumindest.»
Dazu hatte ich nichts zu sagen, und so schwiegen wir für eine Weile. Dr. Frank nippte wieder an seinem Tee. Ich trat vors Fenster und schaute auf die Beacon Street hinab. Es herrschte viel Verkehr, und die Bordsteine waren voller zufriedener Flaneure. Vielleicht waren sie auf dem Weg in die Parkanlagen, um mit den Schwanenbooten zu fahren oder die Enten zu füttern. An einem sonnigen Morgen im August gab es viele Möglichkeiten, sich zu vergnügen.
Diese Leute, vor allem die Familien, machten immer einen gutgelaunten Eindruck auf mich. Ich fragte mich, ob unsere Nachbarn uns vor fünfundzwanzig Jahren auch für eine glückliche Familie gehalten hatten.
«Glauben Sie, Ihr Vater hätte letztlich gewonnen, wenn Sie wieder Freude am Leben fänden?», fragte Dr. Frank. «Dass Sie ihm etwas schuldig wären?»
«Ich weiß nicht», antwortete ich. Was natürlich gelogen war.
«Sie wollen wissen, warum Ihr Vater Sie nicht erschossen hat», behauptete Dr. Frank seelenruhig. «Darauf läuft es doch hinaus, selbst nach fünfundzwanzig Jahren. Warum hat Ihr Vater Sie nicht auch getötet?»
«Ja.» Ich drehte mich um, ein bisschen verunsichert, und starrte Dr. Frank an. Es sah ihm eigentlich nicht ähnlich, dass er so schnell zum Eingemachten kam. Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte.
«Vielleicht hat Ihre Mutter nach ihm gerufen», führte Dr. Frank aus. «Vielleicht hat sie seinen Namen gerufen und ihn abgelenkt. Könnte auch sein, dass sie ihn angefleht hat, Sie am Leben zu lassen.»
«Unmöglich. Sie war auf der Stelle tot. Kopfschuss.»
«Dann Ihre Schwester vielleicht. Vielleicht hat sie ihn aufgefordert, Sie zu schonen.»
«Er hat ihr ins Gesicht geschossen, als er in der Tür zu ihrem Schlafzimmer stand. Kaum zu glauben, dass sie noch etwas sagen konnte.»
«Ihr Bruder hat aber noch gelebt, als er ins Krankenhaus gebracht wurde.»
«Ja, Johnny lebte noch zwanzig Minuten lang. Und vorher hat er versucht, Superman zu spielen, und ist die Treppe hinuntergeflogen, das Rückgrat kaputt durch die Kugel und der Nacken gebrochen vom Sturz. Wenn er noch irgendwas erbettelt haben sollte, dann den Gnadenschuss.»
«Sie haben also wieder die Polizeiberichte gelesen.»
Ich hatte sie sogar binden lassen, zu einem hübschen kleinen Reader. Dr. Frank und Tante Helen waren schon vor Jahren dahintergekommen.
«Fühlten Sie sich von Ihrer Familie geliebt?» Dr. Frank war heute unerbittlich. Er machte mich nervös. Ich ging in seinem Sprechzimmer auf und ab.
«Weiß ich nicht.»
«Wissen Sie’s nicht, oder
wollen
Sie es nicht wissen?»
«Ich … weiß es nicht.»
«Haben Sie Ihre Familie geliebt?»
«Meine Mutter und meine Geschwister, ja», antwortete ich, ohne zu zögern.
«Wirklich?» Er legte seinen Kopf schief. Die typische Pose eines Seelenklempners. «Danielle, Sie haben so viel Zeit und Energie für die Trauer um Ihre Angehörigen aufgebracht. Wenn Sie sie wirklich lieben, warum investieren Sie da nicht ein bisschen mehr Zeit und Energie in gute Erinnerungen an sie? Glauben Sie nicht, dass sie gewünscht hätten, Sie würden sich liebevoll an sie erinnern?»
«Aber ich liebe
ihn
auch», hörte ich mich flüstern.
«Ich weiß.»
«Ich habe mir so viel Mühe gegeben, ihn glücklich zu machen.»
«Ich weiß.»
«Damals, in dieser Nacht, dachte ich, es könnte ihn glücklich machen, wenn ich täte, was er will, und alles wäre gut.»
«Was wollte er denn, Danielle? Sie sind jetzt eine erwachsene Frau, eine ausgebildete Pädagogin. Glauben Sie nicht auch, dass Sie das, was er wollte, inzwischen laut aussprechen können?»
Aber das konnte ich nicht. Manches können Kinder einfach nicht in Worte fassen. Sie haben nicht das Vokabular, das zu dieser besonderen Erfahrung passt. Zehn Cent, wenn du Daddys Penis anfasst. Einen Vierteldollar, wenn du daran lutschst. Was könnte ein kleines Mädchen dazu sagen?
Ich
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