Die Frucht des Bösen
Anzug. Ich antwortete schließlich: «Zwei.»
«Zwei Tage», wiederholte er. «Und wie bereiten Sie sich darauf vor? Indem Sie Überstunden machen, sich die Nächte um die Ohren schlagen, zu viel trinken und zu wenig essen. Nennen Sie das eine geeignete Bewältigungsstrategie?»
«Vergessen Sie nicht meine jährliche Pilgerfahrt zum Friedhof in Begleitung von Tante Helen.»
«Wollen Sie auch diesmal wieder hin, Danielle?»
Weil ich darauf nicht antwortete, drückte er auf Schalter Nummer zwei. «Wollen Sie, dass es Ihnen bessergeht? Glauben Sie, es sei damit getan, dass Sie sich auf Ihre Patienten fokussieren, auf Fälle wie Lucy?»
Auch dazu sagte ich nichts. Also versuchte er es, weil aller guten Dinge drei sind, mit Hebel Nummer drei. «Reden wir über Ihr Liebesleben.»
«Ach, kommen Sie mir nicht damit!», blaffte ich ihn an.
Er fügte sich. Schließlich war dies meine Sitzung. Ich hatte das Sagen und konnte so viel lügen, wie ich wollte. Meine Knie zitterten wieder, und ich fragte mich, wieso ich eigentlich hergekommen war. Ich hätte einfach zu Hause bleiben sollen. Ich sollte meine Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen.
Nächsten Montag würde es genau fünfundzwanzig Jahre her sein, der Tag, an dem meine Mutter, meine Geschwister und mein Vater starben und nur ich mit dem Leben davongekommen war – als einzige Zeugin.
Aber ich hatte nichts zu bezeugen. Auch nach fünfundzwanzig Jahren war ich kein bisschen schlauer. Ich wusste nicht, warum meine Mutter und Natalie und Johnny hatten sterben müssen. Ich wusste nicht, warum mein erstes Leben hatte enden müssen, und konnte mir auch nicht erklären, warum dieses zweite Leben für mich immer noch so schwer zu ertragen war.
«Haben Sie von dieser Geschichte in Dorchester gelesen?», hörte ich mich fragen. «Von dieser Familientragödie Donnerstagnacht?»
Dr. Frank nickte.
«Gestern waren zwei Detectives auf unserer Station und haben Fragen gestellt. Eines unserer ehemaligen Kinder war involviert. Seine Eltern hatten es im vergangenen Jahr gegen unseren Rat nach Hause geholt. Es scheint, dass wir mit unserer Einschätzung richtiglagen.»
Dr. Frank war an meinen Sarkasmus gewöhnt.
Ich konnte nicht mehr still sitzen. Ich war zu überdreht, zu gereizt. Letzte Nacht hatte ich wieder diesen Traum gehabt. Mein Vater stand vor meinem verfluchten Zimmer und hielt sich diese verfluchte Waffe an den Kopf. Verfluchter Feigling.
«Heute Morgen war in den Nachrichten von einer anderen Familie die Rede. Einer aus Jamaica Plains. Anscheinend aus dem Drogenmilieu. Vier Kinder, vom Säugling bis zum Teenager. Alle tot, einfach so. Wenn sich Drogendealer in die Wolle gekriegt haben, warum musste dann auch der Säugling sterben? Was könnte ein Säugling schon verpetzen? Der Killer hätte ihn doch leben lassen können. Aber vielleicht», so höre ich mich weiterplappern, «wollte das Baby ja auch gar nicht weiterleben. Vielleicht hat es die Schüsse gehört und zu schreien angefangen. Vielleicht wusste es schon, dass seine Mutter und seine Geschwister tot sind. Vielleicht wollte es ihnen folgen.»
«Und der Vater?»
«Kann mir gestohlen bleiben.»
«Hätte das Baby den Vater nicht auch vermisst?»
«Nein», antwortete ich. Über seinen Versuch, mich an die Stelle des Babys zu versetzen – Psychologie, erstes Semester –, konnte ich nur lachen.
«Keine Überlebenden», sagte ich. «Ist vielleicht besser so. Vielleicht gibt es ja einen Himmel. Da wären die Mutter und ihre Kinder dann wieder zusammen. Und vielleicht haben Kinder im Himmel nicht diese Stimmen im Kopf, und Eltern müssen nicht schreien, um sich verständlich zu machen. Im Himmel kommen sie vielleicht endlich miteinander zurecht. Ich finde, es war unfair von meinem Vater, dass er mir auch noch diese Hoffnung genommen hat.»
«Wollen Sie wieder mit Ihrer Familie zusammen sein?», fragte Dr. Frank.
Ich wich seinem Blick aus. «Nein. Und es stinkt mir zusätzlich, dass ich diesem verfluchten Vater auch noch dankbar sein muss, dass er mich verschont hat.»
«Dafür brauchen Sie ihm doch nicht zu danken», sagte Dr. Frank.
«Und wenn doch?»
«Sie haben ein Recht darauf zu leben, Danielle. Und sie haben Anspruch darauf, glücklich zu sein, sich zu verlieben und Freude zu empfinden. Dieses Recht und diesen Anspruch verdanken Sie nicht Ihrem Vater. Sie sind ihm nichts schuldig.»
«Und wenn doch?»
«Ihrer Mutter vielleicht, aber nicht ihm.»
Ich kniff die Brauen zusammen. «Meiner
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