Die Frucht des Bösen
multiple Lernstörungen aufgefallen. Sie beschreibt ihn als netten Jungen, allerdings mit zwanghaften Zügen, die es ihm schwergemacht haben, sich in die Klasse zu integrieren. Besonders ausgeprägt war sein Kreditkarten-Spleen. Er fragte jeden, der ihm in die Nähe kam, nach seiner Kreditkarte aus, wollte die Nummer auf Vorder- und Rückseite wissen und erzählte seinerseits im Detail, was er über diverse Editionen von Kreditkarten wusste.»
«Irgendwelche unkoscheren Absichten?», fragte D. D.
«Die Lehrerin tippt auf ein Asperger-Syndrom, das häufig mit solchen Zwangsstörungen einhergeht. Außerdem war der arme Kerl angeblich von extremen Ängsten besessen. Er weigerte sich zum Beispiel, die Cafeteria oder die Sporthalle zu betreten, weil er fürchtete, die Decke könnte einstürzen. Trotzdem, ein netter Junge.» Alex hob den Bericht in die Höhe. «Das stellt die Lehrerin in ihrer Aussage auffallend häufig fest. Netter Junge, der sich mit der Schule schwertut und keinerlei Unterstützung von zu Hause erfährt. Sie kann sich nicht vorstellen, dass er zu einer Gewalttat fähig war, räumt aber ein, dass er mit seinem zwanghaften Verhalten möglicherweise andere zu einer Kurzschlussreaktion provoziert haben könnte.»
«Interessant», sagte D. D. Sie hob nun ihren Bericht und fasste zusammen: «Rochelle LeBryant. Elf Jahre alt, sollte nächsten Monat ihr sechstes Schuljahr beginnen. Auch gegen sie liegt nichts vor. Im Unterschied zu ihrem Bruder Ishy lernte Rochelle angeblich gern. Ihre Lehrerin sagt, sie sei morgens oft schon lange vor Unterrichtbeginn in der Schule gewesen und habe dann im Flur gelesen. Die Lehrerin beschreibt Rochelle als ein stilles, ernsthaftes und intelligentes Mädchen, immer sehr hilfsbereit und so ehrgeizig, dass sie es kaum ertragen konnte, wenn sie Fehler machte. Sie sei in allen Fächern gut bis sehr gut gewesen.
Von ihrem Zuhause hat Rochelle angeblich nie etwas erwähnt. Allerdings ist der Lehrerin aufgefallen, dass sie immer dieselben Sachen trug, einen unterernährten Eindruck machte und ungepflegt war. Einer Eingebung folgend, hatte besagte Mrs Groves eines Tages eine Flasche Shampoo im Waschraum deponiert, worauf sich Rochelle jeden Morgen vor Schulbeginn die Haare wusch. Ab und an versuchte Mrs Groves ihr unauffällig saubere Unterwäsche anzubieten, wovon Rochelle aber keinen Gebrauch machte. Das Mädchen war anscheinend sehr stolz. Sie nahm auch von ihrer Lehrerin kein Frühstücksbrot oder Obst an. Nur Bücher lieh sie sich aus und gab sie auch immer pünktlich zurück. Romane waren für sie unwiderstehlich.»
D. D. legte den Bericht auf den Schreibtisch zurück. «Mrs Groves kann sich nicht vorstellen, dass Rochelle jemandem etwas hätte zuleide tun können, obwohl sie auf ihre Eltern nicht gut zu sprechen war. ‹Unbeteiligt›, ‹desinteressiert› und ‹lieblos› sind nur einige der Attribute, die sie in diesem Zusammenhang gebraucht. Der Einschätzung ihrer Betreuungslehrerin nach war Rochelle im Wesentlichen auf sich allein gestellt, und was sie daraus gemacht habe, sei unter den gegebenen Bedingungen erstaunlich gewesen.»
«Was ist mit den beiden jüngeren Geschwistern?»
«Die waren noch nicht in der Schule», antwortete D. D. «Deshalb liegen uns nur Aussagen der Nachbarn vor.»
«Lassen Sie mich raten: Die wissen von nichts.»
«Können Sie hellsehen?»
«Ich vermute, die Nachbarschaft gehörte zu Hermes’ Stammkundschaft, und die meisten sind jetzt sauer, dass wir den Schuppen hinterm Haus vor ihnen geöffnet haben.»
«Möglich. Und deshalb werden sie auch keine Lust haben, mit uns zu kooperieren. Sie sind schlichtweg neidisch.»
«Das jüngere Mädchen hat jede Menge hässlicher Schnittwunden», sagte Alex leise. «Sowohl vernarbte als auch frische. An Armen, Beinen und im Gesicht.»
«Ich hoffe, Phil kann uns nach seinem Besuch im Jugendamt mehr dazu erzählen», erwiderte D. D., die an das arme, geschundene Mädchen auf dem Hundekissen gar nicht erst denken wollte. Sie kniff sich in den Nasenrücken und versuchte so, das Bild aus der Erinnerung zu vertreiben.
«Halten Sie durch?», fragte Alex vorsichtig.
«Immer.»
«Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.»
D. D. musterte ihn. «Ich bin gut in meinem Job.»
«Ist mir schon aufgefallen.»
«Ich brauche keine starke Schulter, an der ich mich aufrichten kann, keinen Mann, der mich rettet.»
«Auch das ist mir schon aufgefallen.»
Sie verzog das Gesicht. «Ich hasse meinen
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