Die Frucht des Bösen
Danielle. Wahrscheinlich ist Ihnen selbst schon der Gedanke gekommen. Ich möchte Ihnen raten, in den nächsten Tagen keine Nachrichten zu schauen. Diese anderen Familientragödien würden die für Sie ohnehin schwierige Zeit zusätzlich erschweren. Vor allem der Fall in Dorchester, bei dem das Kind betroffen war, das Sie kannten. Es wäre Salz in Ihrer Wunde. Deren Tragödie ist nicht Ihre Tragödie, und dieser Fall hat nichts mit Ihrem zu tun.»
Ich ging, ohne mir die Mühe zu machen, ihn zu korrigieren. Denn hinter jedem gesprochenen Wort stand eine Vielzahl von Worten, die unausgesprochen blieben.
Die Geschichte meines Lebens.
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19 . Kapitel
Die Kollegen von der Drogenfahndung waren auf Zack. Als D. D. in ihr Büro zurückkehrte, fand sie die komplette Akte von Hermes Laraquette alias Rastamann auf ihrem Schreibtisch. Jeder Weiße, der sich als Rastafari verkleidete, war ihrer Meinung nach verdächtig, und Hermes enttäuschte sie nicht. Er hatte ein langes Register kleinerer Delikte, darunter Einbruch, Diebstahl und Drogenbesitz.
Aber die Justiz war wie üblich hoffnungslos überlastet, weshalb sein Pflichtverteidiger die Hälfte der Anklagen wegen Geringfügigkeit hatte abmindern, die andere Hälfte als unzulässig abschmettern können. Danach war Hermes gut beraten gewesen abzutauchen, bevor ihm die Einwanderungsbehörde auf die Pelle rückte.
Aus einschlägigen Kreisen war zu hören gewesen, dass sich Hermes mit Audi Solis zusammengetan hatte, eine von Sozialhilfe lebende Mutter dreier Kinder von drei verschiedenen Vätern. Neun Monate später hatte sie es mit Hermes’ Hilfe zum vierten Kind von einem vierten Erzeuger gebracht. Auf der Geburtsurkunde von ViVi Bellasara Laraquette, ausgestellt am 19 . März, war Hermes als Vater angegeben.
Für ihr Jüngstes hatte Audi staatliche Hilfe beantragt, während Hermes weiter Dope vertickte.
Das Drogendezernat vermutete, dass Hermes unter den eingewanderten Bürgern Bostons Leute rekrutierte, die ihn mit Ware belieferten und für ihn verkauften. Er machte gute Umsätze, war aber trotzdem nur ein kleiner Fisch im Ozean der Bostoner Drogenszene. Weil er nicht nur dealte, sondern auch selbst fleißig konsumierte, stand von vornherein fest, dass er es nicht weit bringen würde.
Tja, sie hatten also einen kleinen Dealer, erschossen auf seinem Sofa. Eine Mom auf Stütze, niedergestochen in der Küche. Und vier tote Kinder, auf zwei Schlafzimmer verteilt.
D. D. legte die Akte der Drogenfahndung beiseite und las die protokollierten Aussagen der Lehrer der Kinder und der Schulleitung.
«Ishy oder Rochelle?», fragte sie Alex, der am Rand des Schreibtischs Platz genommen hatte und eine Skizze vom Tatort studierte wie Kaffeesatz auf dem Grund einer Tasse.
Er legte die Skizze beiseite. «Ishy.»
D. D. reichte ihm den vorläufigen Opferbericht über Ishy Rivers, dem mit siebzehn Jahren ältesten Sohn, auf den im Flur zweimal geschossen worden war. Sie selbst nahm sich den über die elfjährige Rochelle Le Bryant vor, von der D. D. bereits wusste, dass sie eine Vorliebe für die Farbe Rosa und Schnulzenromane gehabt hatte. Übrig blieben zwei Seiten über die vierjährige, auf dem Hundkissen erschossene Tika und ein paar Zeilen über die fünf Monate alte ViVi, die in ihrer Wiege erstickt worden war. Nach einem so kurzen Leben, dass der Opferbericht nicht einmal eine Seite füllen konnte.
Die beiden lasen schweigend, tranken Kaffee und raschelten mit ihrem Papier. Alex war eher fertig als D. D. und wartete. Als auch sie den Aktendeckel zuklappte und nach ihrer Kaffeetasse griff, fasste er in knappen Worten zusammen: «Ishy Rivers. Gegen ihn liegt nichts vor. Keine Vorstrafen, keine laufenden Ermittlungen. Also sauber. Zwei Kollegen zitieren die Nachbarn mit den Worten ‹wir wissen von nichts›.»
«Komisch, das haben sie auch über Ishys jüngere Schwester gesagt.»
«Die Betreuungslehrerin der Highschool weiß immerhin zu berichten, dass Ishy nur sporadisch am Unterricht teilgenommen hat.»
«Schwänzer?»
«Im vergangenen Jahr war er an genau hundertdrei Tagen anwesend, also im Durchschnitt alle zwei Tage. Man hat ihn zum Nachsitzen verdonnert, damit er den verpassten Stoff aufholt, aber er hat sich nicht blickenlassen.»
«Konsequenzen?», fragte D. D. mit skeptischer Miene.
Alex schüttelte den Kopf. «Es scheint, die Schule hat ihn genauso aufgegeben wie er die Schule. Die Lehrerin meint, Ishy sei von Anfang an durch
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