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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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Kirschbaumholz, darauf ein Tonband und zwei Porzellantassen: Tee für ihn, Kaffee für mich. Die Szene hätte sich auch gut auf einer Theaterbühne gemacht: Promitherapeut unterhält sich mit prominenter Patientin.
    Ich nahm die zierliche Tasse mit Rosendekor und trank einen Schluck, bevor ich auf seine Standardfrage antwortete, mit der er jede unserer Sitzungen einleitete. Ich sah ihn nur zwei- oder dreimal im Jahr, und wir brauchten immer einen kleinen Vorlauf, um warmzuwerden. Er hatte natürlich längst erkannt, dass ich lieber über die Probleme anderer Kinder sprach als über meine eigenen.
    «Ich habe eine neue Patientin», sagte ich und stellte die Tasse wieder ab. Der Kaffee war koffeinfrei, und ich fragte mich, warum ich mir nach all den Jahren diese Plörre immer noch antat.
    «Ja?», sagte er ermutigend und mit seinem ewig geduldigen Blick.
    «Sie heißt Lucy und ist ein Wolfskind. Ein faszinierender Fall, wenn man so will. Sie beruhigt sich damit, dass sie sich in eine Hauskatze hineinversetzt. Spielt mit dem Essen, putzt sich und schläft im Sonnenschein. Als Katze ist sie durchaus umgänglich. Aber wehe, sie schlüpft aus dieser Rolle heraus. Dann wird sie aggressiv, gewalttätig, wild …» Ich hob meine Haare an, um ihm meinen zerkratzten Hals und die blauen Flecken zu zeigen. «Das stammt von unserer Auseinandersetzung in der vergangenen Nacht.»
    Dr. Frank schwieg. Dass ich rede, macht die eine Hälfte unserer Beziehung aus.
    «Wir dachten, sie sei völlig sprachunfähig», fuhr ich fort. «Aber letzte Nacht hat sie mit mir gesprochen. Mir ist schon vorher aufgefallen, dass sie genau hinhört, wenn wir uns miteinander unterhalten. Auch an ihren Augen sieht man, dass in ihrem Kopf jede Menge vorgeht. Ich glaube inzwischen, dass sie weitaus mehr kann, als wir ihr zutrauen.»
    «Sie sagten, sie sei Ihre Patientin?»
    «Ja. Wenn ich Dienst habe, bin ich für sie verantwortlich. Mir werden immer die Kinder anvertraut, die nicht sprechen können. Ich bin gewissermaßen Spezialistin für solche Fälle.»
    «Verstehe.» Auch so eine Standardfloskel von Dr. Frank. Ich bildete mir manchmal ein, schon vor der Sitzung das Skript für unser Gespräch verfassen zu können. Vielleicht ging ich deshalb so selten zu ihm. Im Grunde setzte ich meine Besuche bei ihm nur Tante Helen zuliebe fort. Dass ich mich therapieren ließ, schien ihr enorm wichtig zu sein. Also taten wir, Dr. Frank und ich, ihr den Gefallen.
    Dr. Frank bedachte mich mit ruhigem Blick. Ich wusste, worauf er abzielte, ließ ihn aber zappeln. Schließlich bestand die andere Hälfte unserer Beziehung aus seinen Fragen.
    «Wann haben Sie Feierabend gemacht?», wollte er wissen.
    «Gegen drei in der Früh war ich zu Hause.»
    Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war zehn Uhr. Zehn Uhr an einem wunderschönen Samstagvormittag. Statt hier zu sein, wäre ich besser im Park am Ufer des Charles River.
    «Wann sind Sie heute Morgen aufgestanden?»
    «Wie bitte?»
    «Wann sind Sie aufgestanden?»
    Mein linkes Knie fing zu zittern an. Ich zwang mich zur Ruhe. «Keine Ahnung. Ich habe nicht darauf geachtet.»
    «Haben Sie gefrühstückt?»
    «Klar.»
    «Was haben Sie gegessen?»
    «Weiß ich nicht mehr. Einen Bagel wahrscheinlich. Ist das wichtig?»
    Er beäugte mich und nahm Maß für seinen Vorstoß. «Sagen Sie’s mir, Danielle. Warum ist es wichtig?»
    Jetzt zitterten beide Knie, diese Verräter. «Na schön», schnaufte ich. «Ich schlafe nicht viel. Überrascht Sie das? Und zugegeben, das Frühstück habe ich ausgelassen, und wo wir schon mal dabei sind, das Abendessen gestern auch.» Was mich nicht daran gehindert hat, später noch ein paar Drinks zu nehmen. Auch keine Überraschung.
    Ich starrte ihn an und warnte ihn mit meinem Blick, jetzt nur ja nicht zu sagen, dass ich nicht das Recht hätte, mich selbst zu zerstören.
    «Irgendwelche Träume?», fragte er gelassen.
    «Immer dieselben.»
    «Verlassen Sie Ihr Elternhaus?»
    «Nein. Auch in der Hinsicht gibt’s nichts Neues.»
    «Haben Sie es schon mit Schlaftabletten versucht?»
    «Davon werde ich noch zappeliger, ob Sie’s glauben oder nicht.»
    «Ich glaube Ihnen.» Er nippte an seinem Tee und stellte die Tasse vorsichtig auf den Unterteller zurück. «Wie viele Tage noch?»
    Ich hielt seinem Blick stand. Dieses Miststück kannte den Jahrestag genauso gut wie ich.
    Er verzog keine Miene. Unerschütterlich mit seinen blauen Augen, dem weißen, sorgfältig gestutzten Bart und im hellgrauen

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