Die Frucht des Bösen
abgeschlossene Küche und den Verwaltungsbereich. D. D. schaute unter jedem Schreibtisch nach und zog sogar die Papierlade des Kopierers heraus.
«Versetz dich in eine Katze», murmelte sie vor sich hin.
D. D. hatte nie eine Katze gehabt. Sie traute sich nicht einmal zu, einen Goldfisch halten zu können. Nachdem sie auch den Aufenthaltsraum, die Klassenzimmer und das Wartezimmer durchsucht hatten, zogen die beiden kreativere Fluchtwege in Betracht – den Einstieg in Belüftungsschächte, durch die abgehängte Deckenverkleidung oder den Ausstieg durch eins der Fenster.
Die Fenster ließen sich nicht öffnen, die fast drei Meter hohe Decke war für ein Kind nicht zu erreichen, und in die engen Belüftungsschächte hätte es sich unmöglich hineinzwängen können.
D. D. meldete sich bei Neil. Er und Greg hatten die siebte Etage abgesucht und waren auf dem Weg in die fünfte. Phil bestätigte, dass er und Alex mit dem sechsten Stockwerk durch seien. Also fuhren D. D. und Danielle mit dem Fahrstuhl auf die vierte Etage und setzten dort ihre Suche fort.
Die Schwester wurde hektischer in ihren Bewegungen, ihr Gesicht war noch blasser geworden. Sie war offenbar sehr beunruhigt und gleichzeitig bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.
«Was geschieht mit einem Kind wie Lucy?», fragte D. D. auf dem Weg zum Schwesternzimmer. In dieser Nacht waren nur zwei Schwestern im Dienst, keine der beiden hatte ein streunendes Kind gesehen. Sie versprachen, die Augen offen zu halten, und gingen wieder ihren Pflichten nach, während D. D. und Danielle in jedem Krankenzimmer nachschauten.
«Sie sagten, Lucy sei ein Wolfskind», fragte D. D. weiter. «Was bedeutet das? Lässt sich ein wilder Puma mit Medikamenten und therapeutischen Maßnahmen in ein zahmes Kätzchen verwandeln?»
«Wohl kaum.» Danielle warf einen Blick ins Arzneimittellager, doch auch dort versteckte sich kein neunjähriges Kind. Sie gingen weiter, schneller jetzt.
«Lucy hat ganz wesentliche Entwicklungsschritte nicht vollzogen», erklärte Danielle. «Die wird sie wahrscheinlich auch nicht nachholen können. Wir hatten einmal ein Wolfskind bei uns, das drei Jahre alt war, einen Jungen. Wenn er Hunger hatte, traktierte er den Kühlschrank. Hatte er Durst, trank er aus der Kloschüssel. Defäkiert hat er in irgendeiner Ecke. Erst nach einem Jahr intensivsten Trainings erkannte er seinen Namen, und es dauerte ein weiteres Jahr, ehe er darauf reagierte. Wie gesagt, er war erst drei. Lucy ist neun. In diesem Alter sind für die Weiterentwicklung nicht mehr nur Hürden zu überwinden, sondern ganze Berge. Dutzende.»
«Wird sie so lange hier von Ihnen betreut, bis sie darüber hinweg ist?», fragte D. D. Sie standen in einem abgedunkelten Zimmer, wo ein übergewichtiger Mann, an mehrere Schläuche angeschlossen, auf seinem Bett lag und schnarchte. Im spärlichen Licht der Apparate schauten sie unterm Bett nach, hinterm Stuhl und in der Duschkabine.
Danielle schüttelte den Kopf. «Wir behandeln nur akute Fälle. Aber Lucy wird zeit ihres Lebens betreut werden müssen. Auf lange Sicht kommt also für sie nur eine Einrichtung in Frage, die von den Shriners geführt wird. Sie leisten Erstaunliches, haben aber eine entsprechend lange Warteliste.»
D. D. fühlte sich unwohl. Mit kriminellen Erwachsenen kam sie besser zurecht als mit gestörten Kindern, obwohl, wie sie glaubte, nicht selten die einen aus den anderen hervorgingen. Sie verließen das Zimmer des Schnarchers und betraten den Raum nebenan. Während Danielle die Ecken absuchte, warf D. D. einen Blick unter das Bett.
«Neigen alle Wolfskinder zur Flucht?», fragte D. D. «Folgen sie … dem Ruf der Wildnis?»
«Mag sein. Wild genug sind sie jedenfalls. Aber uns ist noch keines entwischt, abgesehen von Lucy, und die hat’s nun schon zum zweiten Mal geschafft.»
«Wie tickt sie?»
«Keine Ahnung. Wir hatten noch nicht die Zeit, herauszufinden, wie sie die Welt wahrnimmt.»
Sie betraten ein Gemeinschaftsbadezimmer.
«‹Wie sie die Welt wahrnimmt›?», wiederholte D. D. fragend.
«Ja, darum geht’s», entgegnete Danielle. Sie blieb mitten im Flur stehen und schaute der Polizistin in die Augen. «Unsere Jobs haben viel miteinander gemein. Sie müssen sich in die Lage eines Kriminellen hineinversetzen, um ihn zu stellen. Und ich muss das bei einem neunjährigen Wolfskind versuchen, um zu ihm vorzudringen. Die Eltern sind damit überfordert, weshalb deren Ehen häufig scheitern. Sie sind
Weitere Kostenlose Bücher