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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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erinnern Sie sich», entgegnete sie schroff.
    «Mit ihm habe ich monatelang intensiv gearbeitet. Natürlich erinnere ich mich an ihn.»
    «Nicht aber an Tika?»
    «Mir fällt kein Gesicht zu diesem Namen ein.»
    Die Sergeantin ließ mich nicht aus den Augen und schien zu glauben, dass ich ihr etwas vorzumachen versuchte. «Das Mädchen hat sich geritzt. Hilft das Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge?»
    Ich schüttelte den Kopf. «Sie müssten schon konkreter werden.»
    «Ich bitte Sie, ein Mädchen, das sich selbst Schnittwunden zugefügt hat, wird doch wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Oder?»
    «Wir haben zurzeit zwei solcher Fälle auf unserer Station.»
    «Zwei?»
    Ich nahm ihr die Akte aus der Hand. «Kinder sind sehr direkt, Sergeant. Sie können zwar manchmal ihre Gefühle nicht verbalisieren, versuchen sie aber trotzdem mitzuteilen. Ein Kind, das die Welt hasst, wird hasserfüllt agieren, und ein solches, das im Innern verletzt ist, wird seinen Schmerz nach außen tragen, indem es sich zum Beispiel Arme und Beine aufschlitzt. Es will zeigen, dass es Schmerzen hat.»
    «Tika ist im Alter von drei Jahren hier eingeliefert worden. Wir haben es also nicht mit einem Backfisch zu tun, der sich über Gedichte von Sylvia Plath schwermütige Gedanken macht», erwiderte die Sergeantin.
    «Drei Jahre?» Sehr jung für jemanden, der sich ritzte. Aber es wäre nicht das erste Mal. Jetzt war ich mit Stirnrunzeln an der Reihe. «Wann war sie bei uns?»
    Die Sergeantin starrte mich an. «Ungefähr zur gleichen Zeit wie Ozzie Harrington.»
    Ich kramte in meiner Erinnerung und versuchte mir Gruppenbilder unserer Kinder vor Augen zu rufen. Die dynamischen Beziehungen zwischen ihnen prägten unser Milieu so sehr wie individuelle Eskapaden. Mit welchen Kindern hatte Ozzie zu tun gehabt? Wir waren im vergangenen Jahr voll belegt und mit unsäglichen Fällen konfrontiert gewesen, einer schrecklicher als der andere … «Augenblick. Ein winzig kleines Mädchen? Aus Mattapan?»
    Sergeant Warren warf einen Blick auf den Rotschopf, der rechts von ihr saß. «Die Familie ist von Mattapan nach Jamaica Plains umgezogen», murmelte er. Die Sergeantin wandte sich wieder mir zu.
    «Ja, jetzt erinnere ich mich wieder», fuhr ich fort. «Ich habe allerdings nicht viel mit ihr zu tun gehabt. War allzu sehr mit Ozzie beschäftigt. Außerdem konnte sie Frauen nicht ausstehen. Bei männlichen Mitarbeitern war sie besser aufgehoben.»
    «Wie darf ich das verstehen?»
    «Wahrscheinlich suchte sie nach einem Vaterersatz.» Ich zuckte mit den Schultern. «Meinen Kollegen Greg und Ed gehorchte sie aufs Wort. Aber wenn Cecille oder ich mit ihr sprachen, hörte sie gar nicht hin. Das ging zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Wir sind hier keine therapeutische Station, sondern leisten gewissermaßen Erste Hilfe in akuten Fällen. Das heißt, wir müssen akzeptieren, was ist. Also wurde sie von männlichen Mitarbeitern betreut.»
    «Auch von diesem Sportlehrer da draußen?»
    «Sportlehrer? Ach, Sie meinen Greg. Darf ich mal?» Ich zeigte auf die Akte. Die Sergeantin nickte. Ich blätterte darin herum und stellte fest, dass die meisten Berichte von Greg, Ed und Chester geschrieben worden waren. Unsere männlichen MC s. «Greg und Ed sind im Haus», sagte ich. «Vielleicht können die Ihnen weiterhelfen.»
    «Haben Tika und Ozzie miteinander zu tun gehabt?», wollte die Sergeantin wissen.
    «Wahrscheinlich. Im Aufenthaltsraum, während der Gruppenarbeit, in welchem Rahmen auch immer.» Irgendetwas Naheliegendes schien mir entgangen zu sein. Ozzie und Tika. Tika und Ozzie. Plötzlich ging mir ein Licht auf. Meine Hände, die die Akte hielten, erstarrten. Entsetzt schaute ich die drei Detectives an.
    «Verstehe ich richtig …? Tika ist tot?» Dann, zwei Sekunden später: «Oh mein Gott, Jamaica Plains. Da wurde doch gestern Nacht eine Familie überfallen. War das etwa
Tikas
Familie? Zwei Kinder von hier, zwei Familien …»
    Ich mochte mir nicht ausdenken, was dahintersteckte. Doch es deutete sich schon in den Blicken an, mit denen mich die Detectives bedachten. Für sie war ich nicht bloß eine Krankenschwester, die Auskunft über zwei Patienten gab, sondern eine Verdächtige. Der gemeinsame Nenner zweier Familien, die ein ähnliches Schicksal ereilt hatte.
    Mein Hintergrund. Wussten sie davon? Wenn sie davon erführen …
    Mir stockte der Atem. Weiße Funken schwammen durch mein Gesichtsfeld, und ich hörte wieder meinen Vater

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