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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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herauszufinden, was im Inneren des Hauses vor sich ging.
    Jedenfalls hatte er schon an die Säge gedacht, ehe er Anaïs auftauchen sah.
    Diesmal hatte sie auf ihre gräßlichen Shorts aus ausgefranstem Jeansstoff verzichtet, die vor dreißig Jahren der große Hit gewesen waren und die sie aus reiner Provokationslust anzog, um die Verlegenheit zu steigern, die ihr Äußeres bei den anderen hervorrief. Sie trug eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt, die ihre Gesichtsfarbe noch milchiger erscheinen ließen und ihre Taille fast erkennbar machten.
    Sie klingelte. Und danach rief sie: »Mach auf, du Arsch!«
    Er kam der Aufforderung nach, dann drehte er sich um und überließ es ihr, die Tür hinter sich zu schließen.
    Sie setzten sich zu beiden Seiten des niedrigen Tischs auf die Sofas. Ohne ein Wort zu sagen und ohne Evy aus den Augen zu lassen, zog Anaïs einen Joint aus purem Gras aus der Tasche, einen von denen, die sie auf Vorrat rollte und einzeln auf dem Schulgelände verkaufte – ihr Vater war der Leiter der Schule. Sie zündete ihn an und sog den Rauch ein, wobei sie die Luft durch die Zähne pfeifen ließ.
    »Warum hast du mir nie etwas von den Fotos erzählt?« fragte sie und kniff dabei die Augen zusammen. »Wie kommst du dazu, sie dir anzueignen?«
    Sie hielt ihm den Joint hin und blies den Rauch seitlich aus.
    »Ich hätte sie genausogut behalten können«, sagte sie nickend. »Verdient hättest du es. Das hätte ich eigentlich tun sollen. Ich kann dir nur sagen, daß ich eine Stinkwut auf dich hatte. Und ich habe sie noch.«
    Evy nahm einen Zug und hielt eine Weile die Luft an. Er spürte, wie ihm der Stoff direkt ins Gehirn stieg. Er nahm einen weiteren Zug und gab Anaïs den Joint zurück.
    »Und mit welchem Recht?« fragte er.
    »Was willst du damit sagen?«
    »Was sollte dich dazu berechtigen, sie zu behalten?«
    Anaïs hatte die unangenehme Angewohnheit zu glauben, daß ihre unzerstörbare Treue zu Lisa ihr sämtliche Rechte verlieh. Das Recht, alles zu kontrollieren, das Recht, Nachforschungen anzustellen, das Recht, sich als Tempelhüterin aufzuspielen, und das Recht auf praktisch alles, was ihr in den Kopf kam. Evy war der Ansicht, daß all das auf die krankhafte Seite dieses Mädchens zurückzuführen sei.
    Gewiß, Lisas Tod hatte sie zutiefst getroffen, sie vermutlich sogar buchstäblich am Boden zerstört, aber was bildete sie sich bloß ein, und wie konnte sie nur derart die Blutbande unterschätzen, wenn sie sich Evy gegenüber als vorrangig betrachtete!
    Ihr Stoff war gut. Evy behauptete nicht, daß Anaïs nichts taugte und daß sich unter der dicken, weichen Fettschicht, die sie umgab, nicht ein Mädchen verbarg, das den anderen zumindest ebenbürtig war, aber sie war unzählige Male, und heute war das beste Beispiel dafür, unzählige Male verdammt noch mal zu weit gegangen.
    Wie oft wäre es zwischen ihnen fast zu einer Schlägerei gekommen! Wie oft hatte sie ihn gepackt, wie oft hatte er sie mit einem Ruck abgeschüttelt! Wie oft hatten sie sich gegenseitig mit Mordgelüsten angestarrt!
    »Kannst du mir mal sagen, warum du mir nie davon erzählt hast? Und warum habe ich nie erfahren, daß du das alles aufbewahrst?«
    Evy zuckte die Achseln. Er sah, wie sich Anaïs’ Oberkörper bei jedem Zug aus dem Joint wölbte, wie ihre Wangen einfielen, ihre Augen immer kleiner wurden, er spürte, wie sie bei dem Gedanken daran, hier zu sitzen und die Luft dieses Hauses einzuatmen, eine nostalgische Regung überkam.
    Nicht zufällig seufzte sie. »Hör zu, Alter, du hast mich extrem enttäuscht. Deine Haltung hat mich echt enttäuscht.«
    Er streckte die Hand aus, um sie daran zu erinnern, daß sie nicht allein war, sonst hätte sie den Joint zu Ende geraucht.
    »Einmal mehr«, fuhr sie fort und gab ihn weiter.
    Gelbliche Rauchspiralen wanden sich wie Gespenster in der dunklen Stille, die die Pausen füllte.
    »Ich habe gesagt, einmal mehr. Okay? Ohne Kommentar.«
    Sie hatte alles mit ihm versucht. Denn sie glaubte nicht an die allgemein verbreitete These, daß es sich um einen sinnlosen Unfall handelte, daran konnte sie einfach nicht glauben, da sie sonst befürchten mußte, ihr restliches Leben wie ein Zombie in einem Winkel ihres Zimmers zu verbringen und sich selbst aufzugeben. Und so versteifte sie sich darauf, dieser Wahrheit, die sie nicht ergründen konnte, mit allen Mitteln auf die Spur zu kommen, ihr nachzustellen wie ein Spürhund, und deshalb nahm sie Evy mehr als jeden anderen

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