Die Frühreifen (German Edition)
sein Vater oder seine Mutter bemühten, ihm zuliebe eine vertrauliche Atmosphäre zu schaffen – die selten länger als eine Stunde anhielt –, schämte er sich für sie. In seinen Augen handelte es sich dabei nur um einen unangenehmen Moment, der niemandem etwas brachte und zum Glück schnell vorbeiging, aber ihm war klar, daß seine Stellung seit Lisas Tod etwas wackliger geworden war.
»Schön für dich, oder? Freust du dich darüber?«
Sie nickte, während er sich aufs Sofa setzte und über den niedrigen Tisch gebeugt eine Ausgabe der Vogue durchblätterte, die einen Bericht über Botox-Injektionen enthielt.
Während sich seine Mutter fertigmachte, ging er in den Keller. Er fand weder ein Vorhängeschloß noch sonst etwas, mit dem er die Klapptür verbarrikadieren konnte.
Er erwog erneut die Möglichkeit, die Tupperwaredose anderswo aufzubewahren oder sie irgendwo zu vergraben, aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Seine Wut auf Anaïs wurde dadurch noch größer.
Beim Anblick einer Säge kam er auf den Gedanken, die Sprossen anzusägen. Ein Bild zuckte ihm durch den Kopf: Anaïs, die mit in der Luft rudernden Armen in die Leere stürzte. Schließlich hörte er, wie ihn seine Mutter rief.
Und dann erlebte er eine völlig surrealistische Szene.
Laure wartete in der Eingangshalle auf ihn. An jenem Abend ging etwas Strahlendes von ihr aus, was ihn eine Sekunde lang beeindruckte. Sie winkte ihn herbei.
»Komm, gib mir einen Kuß«, meinte sie und blickte ihm fest in die Augen.
Er fragte sich, ob er richtig gehört hatte. Oder ob sie irgend etwas genommen hatte. Sie hatten sich schon seit Monaten nicht mehr berührt.
»Es wird schon alles gutgehen«, sagte er zu ihr. »Keine Panik.«
Sie packte ihn am Ärmel.
»Komm, gib mir einen Kuß. Das brauche ich jetzt.«
Er küßte sie, während sie völlig unerwartet die Arme um ihn schlang. Sie schien einen Augenblick den Boden unter den Füßen zu verlieren und drückte ihn verzweifelt an sich.
»Wir werden es schon schaffen«, flüsterte sie ihm zu. »Wir fangen einfach wieder von vorn an, das verspreche ich dir.«
Evy war total verblüfft. Er starrte auf die glimmenden Dioden der Alarmanlage, die ab und zu an der Wand aufblinkten, und reagierte nicht.
Sie ließ ihn wieder los. Dann zwinkerte sie ihm zärtlich zu und ging hinaus.
Dreißig völlig verrückte Sekunden. Evy stand regungslos im Eingang und spürte noch die Arme seine Mutter, die ihn umschlungen hatten, und ihre Brust, die sie an die seine gepreßt hatte. Er hörte, wie der Motor des Cherokees aufheulte. Aber die Sache hatte auch etwas Positives, denn nichts war schlimmer, als zusehen zu müssen, wie sie ruhelos durchs Haus irrte oder von morgens bis abends mit Judith Beverini tratschte, wenn sie gar keinen Job hatte. Evy drückte ihr die Daumen, damit sie diese Rolle bekam, die sie offensichtlich den Verstand verlieren ließ.
Er setzte sich. Er mochte es, wenn niemand da war und er allein zu Hause war. Dann brauchte er sich nicht in sein Zimmer zurückzuziehen. Er mochte die Schwärze der Nacht hinter der Fensterwand, die tiefe Stille, die ihn umgab, sobald seine Eltern nacheinander – oder gemeinsam zu einem offiziellen Empfang – weggegangen waren. Er nutzte die Stille, um an Lisa zu denken, stellte sich vor, wie sie durchs Zimmer ging oder ein Bier mit ihm trank, wie sie es getan hatte, wenn sie gut gelaunt war, in solchen Augenblicken fehlte sie ihm am meisten und war ihm zugleich so nah, in diesem Haus, in dem sie aufgewachsen waren, ohne die Gefahr zu ahnen, die auf sie lauerte.
Er dachte, daß die Säge gar keine schlechte Lösung sei, vor allem da man ein Vorhängeschloß leicht abreißen konnte, wenn man mit dem entsprechenden Werkzeug ausgerüstet wiederkam. Er schaltete den Fernseher ein und zappte eine Weile, ohne ein interessantes Programm zu finden – die meisten widerten ihn an.
Die Fensterscheiben des Wohnzimmers waren so behandelt, daß man von draußen so gut wie nichts erkennen konnte, und sie waren kugelsicher – vor Groupies sicher, wie ihnen der Rockstar im Vertrauen gesagt hatte. Man sah jedoch die Leute, die von der Allee kamen, sobald sie aus dem Schatten der Amberbäume auftauchten – und hatte somit Zeit, sich davonzumachen, wenn man nicht dazu aufgelegt oder fähig war, Besuch zu empfangen. Die Leute klingelten zunächst, dann legten sie die Hand schirmend über die Augen, drückten mit verzogenem Gesicht die Nase an die Scheibe und versuchten
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