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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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den Crushed-Ice-Hahn, und die Maschine machte ein Geräusch wie eine Registrierkasse. Dann kehrte er an die Bar zurück und goß sich einen Gin ein, nachdem er die Nase in eine Pink-Beauty-Tulpe gesteckt hatte, deren leuchtend rosa Blütenblätter weit geöffnet waren. »Dann haben wir wenigstens mal eine Atempause«, sagte er zu sich selbst.

Das Büro von Anaïs’ Vater glich nicht dem eines Schulleiters. Es war hell und groß, eingerichtet mit einem gut gepolsterten Sofa, tiefen Ledersesseln, einer eindrucksvollen Bücherwand, einem Barschrank und Jalousien und befand sich etwas abseits auf dem Schulgelände in einem kleinen separaten Gebäude – einer Oase der Ruhe –, in dem sich Vincent Delacosta einen sicheren Unterschlupf geschaffen hatte, eine Festung, die ihn vor der Schar der ihm anvertrauten verstörten Jugendlichen abschirmte.
    Er machte sich dort ein angenehmes Leben, da er einen Großteil seiner Befugnisse auf andere übertragen hatte, um möglichst wenig Kontakt mit den Schülern zu haben. Innerhalb weniger Jahre hatte er alle Hoffnung aufgegeben, irgend etwas Nützliches auf diesem Gebiet zu erreichen, und um es offen zu sagen, es interessierte ihn gar nicht mehr. Sogar seine eigenen Kinder interessierten ihn nicht mehr: weder Anaïs, die eher einem unergründlichen Block aus Vulkangestein glich, noch ihr kleiner Bruder, ein gut zehnjähriger hyperaktiver Junge, der täglich 80   mg Ritalin schluckte und trotz allem ein wildes Zucken des einen Auges nicht vermeiden konnte.
    Wenn er wie heute zum Beispiel den Blick voller Rührung auf der roten Farbenpracht des Hügels oder auf den herrlichen Schenkeln von Alexandra Storer ruhen ließ, fragte er sich, wie diese Welt, solch eine Welt, so viel Anmut und solch unendliche Schönheit hervorbringen konnte.
    Vincent Delacosta war ein Mann von unscheinbarem Äußeren, ohne jeden Charme und ohne irgend etwas, was eine halbwegs lebendige Frau hätte reizen können, aber als Ersatz dafür besaß er als Leiter des Brillantmont-Gymnasiums – einer Privatschule mit staatlicher Unterstützung – eine gewisse Macht und versäumte es nie, diese auszunutzen, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu bot.
    All diese armen Eltern hatten solche Schwierigkeiten mit ihren Kindern, daß sie vor Angst nicht mehr ein noch aus wußten. Aber da er selbst schon völlig hilflos war, wie hätte es ihnen dann besser ergehen sollen angesichts der heutigen Jugend, dieser mit allen Wassern gewaschenen Schufte, die vor nichts Respekt hatten – nicht einmal vor sich selbst?
    Lieber Monsieur Delacosta. Verehrter Freund. Vincent. Lieber Vincent. Mit diesen Worten richteten sich Frauen an ihn, die auf dem Hügel wohnten und im allgemeinen unnahbar waren, parfümierte, für gewöhnlich distanzierte Frauen. Früher oder später fraßen sie ihm aus der Hand, flehten ihn an, ihre Sprößlinge zu verschonen, sie nicht vor die Tür zu setzen, sie nicht die Klasse wiederholen zu lassen, die Beschwerde eines Lehrers zu ignorieren, eine Drogen- oder eine Sexgeschichte zu vertuschen, in die X oder Y verwickelt waren – es war wirklich für jeden etwas dabei. Um jeden Preis war die unterschwellige Botschaft, die ihm die meisten dieser Mütter mitteilten – eine von ihnen hatte ihm ganz einfach unter seinem Schreibtisch einen geblasen, damit er einen Biologielehrer entließ, den ein Blondschopf nicht ausstehen konnte.
    Patrick Storer wieder zuzulassen stand natürlich in seiner Macht, aber er erhob sich und stellte sich vors Fenster, damit die gute Madame Storer begriff, daß die Sache nicht so einfach war. Es war ein strahlend heller Tag. Leider wohnte Vincent Delacosta nicht auf dem Hügel, aber wie so viele andere konnte er sich gut vorstellen, wie traumhaft das Leben inmitten von Oleander und Mimosen sein mußte, bis mittags in Pantoffeln zu faulenzen, den Himmel zu betrachten, sich täglich mit einer Zeitung in die Sonne zu setzen, ohne sich um irgend etwas zu kümmern, und all das beim Zwitschern der Vögel und im zarten Duft des Waldes.
    »Hm, hm«, brummte er und strich sich über das Kinn. »Gut, gut.«
    Für einen Geschlechtsverkehr oder zur Not auch für ein oder zwei Lutschpartien hätte sie ihn um alles bitten können, er wäre im voraus darauf eingegangen. Alexandra Storer war eine echte Schönheit, eine dominante Frau, wie er sie liebte, aber er machte sich keine Illusionen. Im Laufe der Zeit hatte er eine gewisse Erfahrung auf diesem Gebiet gesammelt, und er sah in ihr eher eine

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