Die fünf Leben der Daisy West
hoffe, dass ich die Wahrheit sage.
»Das meine ich ernst«, fährt er fort. »Wenn dir etwas zustößt, bin auch ich am Ende.«
»Ich weiß«, antworte ich und greife nach seinen Handgelenken, sodass wir uns gegenseitig halten.
»Nimm bloß deinen verdammten EpiPen mit zur Schule«, sagt er.
Kurz lache ich auf. »Das werde ich tun.«
»Und halte dich von Bienen fern. Bleib lieber gleich drinnen.«
»Okay.« Ich lache abermals.
»Und ...« Matt kommt näher. Sein Gesicht ist nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. »Bleib.«
Die Bitte trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Tränen schießen mir in die Augen. Matt wirkt so verwundbar, so brutal ehrlich, dass ich verzweifelt nach einem Grund suche, mich abzuwenden.
»Ich kann nicht«, flüsterte ich.
»Ich weiß«, antwortet er.
Er nimmt mich in den Arm und drückt mich fest an sich. Ich lehne mich über der Mittelkonsole und der Schalthebel drückt mir in die Seite. Dennoch würde ich stundenlang in der Position verharren, wenn ich könnte. Nie habe ich mich wohler gefühlt. Nie ist mir wärmer gewesen. In diesem Moment, in Matts Armen, wird mir wieder bewusst, dass ich niemals irgendwo anders hingehört habe als hierher.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
44
Als erfahrene Nomadin bemühe ich mich, die positiven Seiten unseres neuen Wohnorts Alameda in Kalifornien zu sehen – einer kleinen Insel zwischen Oakland und San Francisco. Alameda ist einer dieser heimeligen Orte, die man wirklich lieben könnte ... wenn man sein Herz nicht woanders verloren hätte.
Und dennoch versuche ich es. Während ich durch die Stadt streife, erstelle ich mental eine Liste von Alamedas Vorteilen:
Das Wetter
Die schicke Hauptstraße mit den hippen Boutiquen, einem coolen Buchladen und einem altmodischen Eisgeschäft gleich nebeneinander
Der kleine Strand mit wunderbarem Blick auf die Skyline von San Francisco, was Matt gefallen würde
Die Dinge so zu sehen, fällt mir nicht leicht. Aber Mason tut sein Bestes, um mich zu unterstützen. Zwei Tage, bevor ich – hoffentlich zum letzten Mal! – eine neue zehnte Klasse beginne, fahren wir in die Stadt. Unterwegs biegt Mason in eine Einfahrt zu einem fremden Grundstück ein, weswegen ich mich verwundert zu ihm umdrehe.
»Hast du dich verfahren?«, erkundige ich mich und betrachte die viktorianische Vorderfront, die eine wunderbare Filmkulisse abgeben könnte.
»Nein«, antwortet er lächelnd und legt den Kopf in den Nacken,um bis zum Dach des dreigeschossigen Gebäudes sehen zu können.
»Mason, willst du mich auf den Arm nehmen?«, frage ich weiter und beäuge skeptisch die um das gesamte Haus herumführende Veranda.
»Nein, keinesfalls. Es ist größer als nötig, aber klassisch. Mir gefällt es. Und, man weiß es ja nie, vielleicht vergrößert sich unsere Familie eines Tages.«
Bevor ich darauf etwas erwidern kann, springt Mason auch schon lachend aus dem Wagen, läuft die Stufen zum Eingang hinauf und bedeutet mir zu folgen.
Beim Eintreten raubt es mir fast den Atem, so fasziniert bin ich. Dieses Haus, das laut Mason mehr als ein Jahrhundert alt ist, wurde eindeutig geliebt. Was allerdings auch nicht schwerfällt. Das großzügige Treppenhaus ist von dunklem Holz geprägt. Im Wohnzimmer befinden sich große Einbauregale für Bücher, sodass ich daraus am liebsten gleich mein Zimmer machen würde. Die Küche ist hell, luftig und modern, der Wohnbereich riesengroß. Und es gibt fünf weitere Zimmer. »Ich bekomme mein eigenes Badezimmer«, rufe ich begeistert, »und schau dir diesen Kleiderschrank an!«
»Gefällt es dir?«, erkundigt sich Mason verlegen, als wäre das Haus ein Geschenk an mich. In gewisser Hinsicht ist es das wahrscheinlich auch.
»Es ist wunderschön«, antworte ich und schaue dann nacheinander je einen Augenblick durch jedes der drei Fenster in meinem Zimmer.
»Auch wenn es nicht in Omaha steht?«, fragt Mason weiter.
Ich hole tief Luft. Kalifornische Luft.
»Auch wenn es nicht in Omaha steht.«
Am Abend, bevor die Schule beginnt, klopfe ich an Masons Zimmertür. Er trägt eine Schlafanzughose und ein graues T-Shirt. Als ermich sieht, legt er sein Buch zur Seite und schenkt mir seine volle Aufmerksamkeit.
»Ich wollte mich nur erkundigen, wie es mit den Ermittlungen vorangeht«, sage ich und bleibe auf der Schwelle stehen.
»Ach, noch gibt es keine Neuigkeiten«, antwortet er und reibt sich die Augen. »Sie glauben, dass es Monate dauern
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